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23. Dezember 2015

Blog

Grundeinkommen:

Das falsche Mittel

Die Ziele sind anerkennenswert, aber das Mittel ist falsch. Paul Rechsteiner nahm im Ständerat Stellung zur Volksinitiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen.


Die Volksinitiative «Für ein bedingungsloses Grundeinkommen» möchte der ganzen Bevölkerung ein menschenwürdiges Dasein und die Teilnahme am öffentlichen Leben ermöglichen. Diese Ziele kann man nur unterstützen. Sie ergeben sich allerdings heute schon aus unserer Bundesverfassung und den auch für die Schweiz massgebenden internationalen Konventionen. Namentlich dem UNO-Menschenrechtspakt I.

Das Problem dieser Volksinitiative sind nicht diese Ziele. Sondern das Mittel, das zur Erreichung dieser Ziele vorgeschlagen wird: nämlich das bedingungslose Grundeinkommen für alle unabhängig vom Bedarf. Nach den Vorstellungen der Initianten sollen das 2‘500 Franken pro Monat für Erwachsene sein. Egal, ob sie das nötig haben oder nicht.

Ist es nun wirklich gescheit, allen, die erwerbsfähig sind und eine Stelle haben, von Staates wegen 2‘500 Franken pro Monat auszuzahlen? Eine Summe andererseits, die völlig ungenügend ist, um davon in Würde leben zu können? Die Frage beantwortet sich von selbst. Es müssten gewaltige Summen in Bewegung gesetzt werden, um solche Vorstellungen in die Tat umzusetzen. Ohne dass das den Erwerbstätigen irgendetwas nützen würde. Von den immensen Kosten in der Grössenordnung eines Drittels des ganzen Bruttoinlandprodukts und vom Aufbau einer enormen neuen Bürokratie ganz zu schweigen. Aus Sicht der Erwerbstätigen gibt es nur Nachteile.

Aber auch bei jenen, die nicht zu den Erwerbstätigen zählen, sieht es nicht besser aus. Der Sozialstaat ist eine grosse Errungenschaft der modernen Zivilisation. Kein entwickelter Staat kann darauf verzichten. Zu den entwickelten Ländern zählt in der vordersten Reihe auch die Schweiz. Unser schweizerisches Sozialversicherungssystem ist an konkreten sozialen Risiken entwickelt und aufgebaut worden. Zu Recht. Zur Abdeckung der grossen sozialen Risiken wie Alter, Unfall, Krankheit, Invalidität und Arbeitslosigkeit gibt es keine bessere und leistungsfähigere Antwort als eine Sozialversicherung. Sozialversicherungen, die diesen Namen verdienen, erbringen regelmässig bessere Leistungen als das strikte Minimum. Sie gehören zum Kern dessen, was die Schweiz im Besten auszeichnet. Den Sozialstaat mit den Sozialversicherungen durch ein bedingungsloses Grundeinkommen ersetzen zu wollen, ist wenig zielführend. Es würde die soziale Lage der betroffenen Menschen verschlechtern statt verbessern. Denken Sie beispielsweise an die Altersrentnerinnen und Altersrentner oder an die Verunfallten. Sie hätten von einem garantierten Grundeinkommen anstelle der bewährten Sozialversicherungen nur Nachteile zu erwarten.

Natürlich muss der Sozialstaat und müssen die Sozialversicherungen immer wieder an die gewandelten Bedürfnisse angepasst werden. Zum Beispiel aktuell bei der Altersvorsorge. Wie vor wenigen Jahren bei den Kinderzulagen und der Mutterschaftsversicherung. Und womöglich in ein paar Jahren beim Elternurlaub. Und es gibt noch immer empfindliche Lücken. Gerade im Bereich der Armutsbekämpfung, wo sich in der Praxis auch aufgrund von politischen Kampagnen einiges verschlechtert hat, was ja wohl auch ein Anstoss zu dieser Volksinitiative war. Hier muss die Forderung lauten, die Armut zu bekämpfen statt die Armen zu plagen. Auch Armutsbetroffene haben Anspruch auf eine würdige Behandlung. Die Sozialhilfe ist der einzige Ort, wo ein garantiertes Grundeinkommen den Betroffenen Vorteile bringen könnte, wenigstens dort, wo sie schikanös behandelt werden.

Die Entwicklungen bei der Armutsbekämpfung sind allerdings uneinheitlich. Im Positiven gibt es in verschiedenen Kantonen Beispiele dafür, wie das bewährte Instrument der Ergänzungsleistungen zur Bekämpfung der Familienarmut eingesetzt werden kann. Und es gibt Kantone, die neue Lösungen für ältere Arbeitslose vor dem Rentenalter entwickeln, die auf dem Arbeitsmarkt seit längerem in einer schwierigen, oft aussichtslosen Lage sind. Ein Beispiel ist die «rente pont» im Kanton Waadt, die dafür sorgt, dass die Betroffenen vor dem Rentenalter nicht in die Sozialhilfe abstürzen. Auch die guten Branchenlösungen für Vorpensionierungen gehören zu diesen Antworten, beispielsweise das Rentenalter 60 auf dem Bau. Hier, bei den konkreten sozialen Bedürfnissen, muss die Weiterentwicklung des Sozialstaats ansetzen. Ein staatliches Mindesteinkommen unabhängig davon, ob dafür überhaupt ein Bedarf besteht, ist darauf keine Antwort. Ein garantiertes Grundeinkommen ist dort, wo kein Bedarf besteht, zu viel, und dort, wo es einen Bedarf gibt, zu wenig.

Fragwürdig ist, von welchem Begriff der Arbeit die Initianten im Hinblick auf die Welt der Erwerbsarbeit ausgehen. Für die meisten Menschen ist die Erwerbsarbeit im erwerbsfähigen Alter nicht nur die finanzielle Basis für ein selbstbestimmtes Leben. Sondern auch die Voraussetzung zur aktiven Teilnahme am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben. Die Ziele müssen deshalb auf die Teilhabe aller ausgerichtet werden. Allen voran gilt das für die Jungen. Sie dürfen nicht einfach auf minimale Sozialleistungen abgeschoben werden. Unser Bildungssystem muss die Ziele der Chancengleichheit und der grösstmöglichen Beteiligung am wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben anvisieren.

Deshalb müssen wir am Ziel festhalten, dass 95% der Jungen eine nachobligatorische Ausbildung machen sollen, sei es eine Lehre, sei es ein Studium. Und deshalb braucht es eine Wirtschaftspolitik, die auf das Ziel der Vollbeschäftigung ausgerichtet ist. Der technologische Wandel bedeutet nicht, dass die Arbeit in Zukunft ausgehen würde. Und es braucht eine Lohnpolitik, die dafür sorgt, dass sich die Arbeit für alle lohnt, auch für alle mit unteren und mittleren Einkommen. Und nicht nur für jene an der Spitze der Einkommenspyramide. Dafür braucht es gute Gesamtarbeitsverträge und Mindestlöhne. Diese klassischen Ziele sind aktuell geblieben.

All das hat durchaus einen Zusammenhang mit der Vorstellung des garantierten Grundeinkommens. Dort, wo in der Vergangenheit mit einem Grundeinkommen experimentiert wurde, wie historisch beim Speenhamland-System im 18. Jahrhundert in England, hat das nicht zu einer Verbesserung, sondern zu einem Absinken der Löhne geführt.

Zum Schluss: Die Initiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen ist eine nationale Volksinitiative. Es  lohnt sich deshalb, noch einen kurzen Blick auf den internationalen Kontext zu werfen. Wenige Wochen erst ist es her, seit die Entwicklungsziele auf Weltebene für die kommenden 15 Jahre neu formuliert worden sind: mit der Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung, den sogenannten Sustainable Development Goals. Sie lösen die sogenannten Milleniumsziele 2001-2015 zur Bekämpfung von Armut ab. Die neue Agenda für die kommenden 15 Jahre enthält nun ausdrücklich auch Ziele sozialer Nachhaltigkeit wie jene der Vollbeschäftigung und von «decent work» – den Anspruch auf anständige, gute Arbeit. Das sind ausgehend von den heutigen Realitäten ambitiöse Ziele. Trotzdem: Wer sich bei den katastrophalen Arbeitslosenzahlen in vielen Ländern als Folge einer falschen Wirtschaftspolitik resigniert vom Ziel der Arbeit für alle verabschieden möchte, muss aufpassen, dass er nicht einer falschen Politik Vorschub leistet. Die Menschen im erwerbsfähigen Alter wollen nicht mit einem Minimaleinkommen abgespiesen werden. Sie wollen Zukunftsperspektiven. Sie wollen Arbeit. Die soziale, wirtschaftliche, gesellschaftliche Nachhaltigkeit ist deshalb so wichtig wie die ökologische.

Die Volksinitiative für das bedingungslose Grundeinkommen verfolgt somit positive Ziele: ein würdiges Leben für alle. Soweit sie sich gegen die Entrechtung und Gängelung von sozialhilfeabhängigen Menschen wendet, hat sie auch verständliche Motive. Das Mittel aber, das bedingungslose Minimaleinkommen für alle, unabhängig davon, ob sie das brauchen oder nicht, ist untauglich. Oder schlimmer: falsch, weil es den Erwerbstätigen schadet, aber auch allen, die auf die Sozialversicherungen zählen können. Diese müssen wir weiterentwickeln, wo es nötig ist. Und alle müssen die Chance haben, im erwerbsfähigen Alter erwerbstätig zu sein.