Vor 100 Jahren stand die Schweiz still. Keine Eisenbahnen fuhren mehr. Grosse Teile des Landes waren im Ausstand. Der Generalstreik war die grösste Volksbewegung in der jüngeren Geschichte unseres Landes.
Der Generalstreik schrieb das Programm des Fortschritts für die Schweiz im 20. Jahrhundert. Stellen wir uns vor, die Schweiz hätte 1918 das Frauenwahlrecht eingeführt! So, wie das die Streikenden gefordert hatten. Die Schweiz hätte beim Frauenstimmrecht zur Spitzengruppe in der Staatenwelt gehört. So aber fiel der Männerstaat Schweiz immer weiter zurück: Die Schweiz wurde zum schweren demokratiepolitischen Problemfall.
Ausgerechnet die Schweiz. Das Land mit der einzigen erfolgreichen demokratischen Revolution in Europa von 1848. Das Land, das bei der demokratischen Entwicklung im 19. Jahrhundert weltweit an der Spitze gestanden hatte.
Stellen wir uns vor, was die politischen Rechte ab 1918 für die Gleichstellung bedeutet hätten. Auch beim Eherecht. Die wahlberechtigten Frauen hätten nicht hingenommen, dass ihnen die Gleichberechtigung in der Ehe noch 70 Jahre lang verweigert wurde. Bis vor 30 Jahren. Bis 1988.
Bei anderen Forderungen des Neun-Punkte-Programms ging es schneller als beim Frauenstimmrecht. Allem voran beim Achtstundentag.
Der Achtstundentag war die zentrale Forderung, als der 1. Mai 1890 von der weltweiten Arbeiterbewegung zum ersten Mal gefeiert wurde. Dreissig Jahre später war der Achtstundentag realisiert. Nicht weil die bürgerliche Mehrheit plötzlich grosszügig geworden wäre. Sondern einzig und allein als Folge des Generalstreiks.
Der Achtstundentag: Das waren bei damals noch sechs Arbeitstagen in der Woche 48 Stunden. Bis zum Generalstreik lag die Höchstarbeitszeit pro Woche bei 59 Stunden. Man muss sich das noch einmal vorstellen: Auf einen Schlag wurde die Höchstarbeitszeit von 59 auf 48 Stunden gesenkt. Minus 11 Stunden pro Woche auf einen Schlag: So etwas hatte es vorher nie gegeben. Und seither nie mehr. So sehr war den Bürgerlichen der Generalstreik in die Knochen gefahren. Alle Versuche, die Arbeitszeit in den 1920er-Jahren wieder heraufzusetzen, waren zum Scheitern verurteilt.
Der Generalstreik wurde, wie es damals hiess, zum Schwungrad für den Aufbau des Sozialstaats. Die Alters- und Hinterlassenen-Versicherung wurde zur zentralen Forderung der Arbeiterbewegung. Der Weg von der Forderung bis zur Realisierung der AHV dreissig Jahre später war ein Weg mit Rückschlägen und Niederlagen. Aber das Ziel war gesteckt: Machtvoll und als Forderung von elementarer Gerechtigkeit.
Was lehrt die Geschichte des Generalstreiks? Nach dem Ultimatum des Bundesrats hatte das Oltner Aktionskomitee die Weisheit, den Streik abzubrechen. Es wollte nach der Mobilisierung der Armee ein Blutvergiessen verhindern. Aber was zunächst eine Niederlage war, verkehrte sich je länger je mehr in einen gewaltigen Erfolg. Einen gewaltigen Erfolg auf der Höhe der gewaltigen Bewegung. Sie veränderte die Schweiz. Die Arbeiterinnen und Arbeiter hatten sich ihre Anerkennung und den Respekt erkämpft.
Im Rückblick gehört der Landesstreik zu den grossen Etappen der modernen Schweiz. Nach 1798 und 1848, der Gründung des Bundesstaats, steht 1918 für den Aufbruch in die soziale Schweiz.
Auf längere Sicht zählen also nicht die Niederlagen. Es zählt die Bereitschaft und die Kraft, für berechtigte Forderungen weiterzukämpfen, Rückschlägen zum Trotz. Bis sie realisiert sind.
Aber was es in der Schweiz nie mehr geben darf: Den Einsatz der Armee gegen das eigene Volk. Mit Handgranaten. Mit Maschinengewehren.
Vergessen wir nicht: Der Streik war schon abgebrochen, als in Grenchen drei Arbeiter erschossen wurden. Von hinten, auf eine Distanz von wenigen Metern. Ein von hinten zertrümmerter Kopf. Ein Opfer mit den Händen in den Hosentaschen.
Das darf es nie mehr geben! Plus jamais ça!
10. November 2018
Blog
Das Programm des Fortschritts für die Schweiz
Vor 100 Jahren stand die Schweiz still. Paul Rechsteiners Rede am Gedenkanlass zum Generalstreik.