Die Einladung der Burgergesellschaft, am traditionellen Neujahrsbott zu einem frei gewählten Thema zu sprechen, kam unerwartet.* So unerwartet sie kam, so überraschend zeigte es sich, dass mir eine Entdeckungsreise in eine mir unbekannte Welt bevorstand, die eigentlich vor meiner Haustüre liegt.
Ich wohne seit meiner Geburt in St.Gallen, unterbrochen nur durch das lange zurückliegende Studium. Mit der Ortsbürgergemeinde hatte ich kaum Kontakt, und von der Burgergesellschaft als ihrem harten politischen Kern wusste ich bis vor kurzem nichts. Das hat sich geändert, dank der bemerkenswerten Publikation zur Geschichte der Ortsbürgergemeinde aus dem Jahre 2017. Bemerkenswert ist diese Festschrift, weil sie die schwierigen Kapitel der Vergangenheit nicht ausblendet. Ich komme darauf zurück. Der offene und kritische Umgang mit der eigenen Geschichte ist die Voraussetzung einer produktiven Entwicklung in der Zukunft.
Mein Thema heute ist das Bürgerrecht: Ein Schlüsselthema nicht nur für St.Gallen und die Schweiz, sondern für ganz Europa und die Welt. Das Bürgerrecht entscheidet darüber, wie eine Gesellschaft mit der Wohnbevölkerung umgeht, also den Menschen, die sie ausmachen. Wer dazu gehört und wer nicht. Vollwertig und gleichberechtigt. Nicht nur bei den Pflichten wie den Steuern, sondern auch bei den Rechten.
Diese Frage ist heute umso akuter geworden, als unsere Gesellschaften alle durch Migration geprägt sind. Wirtschaftlich erfolgreiche und politisch stabile Regionen und Länder sind Einwanderungsgesellschaften. Wirtschaftlicher Niedergang und natürlich Gewalt und Krieg sind Ursachen für Auswanderung, führen dazu, dass Menschen Länder und Regionen verlassen. Hätte man die Wahl, in einem Einwanderungsland geboren zu werden und zu leben oder in einem Auswanderungsland, wäre die Wahl wohl klar. Auch Einwanderungsgesellschaften, Einwanderungsländer haben Probleme zu lösen. Sie sind aber jenen bei weitem vorzuziehen, mit denen Auswanderungsländer konfrontiert sind.
Die Schweiz ist wirtschaftlich seit langem erfolgreich und dynamisch und deshalb ein Einwanderungsland, auch wenn man das politisch nicht überall wahrhaben will. Wie immer man zum Thema Migration steht, massgebend sind die Tatsachen, die Realität. Die Schweiz muss sich deshalb mit den Fragen beschäftigen, die ein Einwanderungsland lösen muss. Das Bürgerrecht gehört dazu.
Die Schweiz war in ihrer Geschichte auch schon ein Auswanderungsland, das Teile der Armutsbevölkerung über den Atlantik drängte. Und St.Gallen hat wie nur wenige Städte in der Schweiz erlebt, was wirtschaftliche Blüte und Krise bedeuten. In den Jahrzehnten vor 1914 kam es zu einem unglaublichen Boom und einem entsprechenden Bevölkerungswachstum, als die Stickerei die Exportindustrie Nummer eins der Schweiz wurde. Diese dynamischen Jahrzehnte prägen das Stadtbild bis heute. Umso brutaler war der Absturz danach. Zwischen 1910 und 1941 verliess ein Fünftel der Einwohnerinnen und Einwohner die Stadt. Lange sah es so aus, als ob sich St.Gallen nie mehr von diesem Schlag erholen würde, wie Fritz René Allemann noch 1965 in seinem Kantonsporträt schreibt. Die Probleme der Krise sind etwas, was sich niemand zurückwünschen würde. Auch wenn es inzwischen mehrere Generationen hinter uns liegt, sollten wir das nicht vergessen.
Zurück in die Gegenwart. Heute stehen wir vor der Tatsache, dass ein immer grösserer und wachsender Teil der ständigen Wohnbevölkerung nicht zur Aktivbürgerschaft gehört. In der Stadt St.Gallen ist das rund ein Drittel der ständigen Wohnbevölkerung. In Zahlen sind es 25'000 Personen. Viele von ihnen leben schon lange, und manche schon immer hier. Das kann einem Gemeinwesen, das sich als Demokratie versteht, nicht gleichgültig sein. Erst recht nicht in einem Land, in dem die Demokratie einen so hohen Stellenwert hat wie der Schweiz.
Die Schweiz ist bekanntlich die zweitälteste Demokratie der Welt, und dank der Revolution von 1848 die älteste in Europa. Trotz ihrer Mängel, dem Ausschluss der Frauen, der noch lange dauernden Diskriminierung der Juden, war die Schweiz demokratiepolitisch im 19. Jahrhundert ein Leuchtturm, auch dank den direktdemokratischen Rechten. Gerade der junge Kanton St.Gallen zeichnete sich aus. Hier wurde mit dem Veto der Vorläufer des Referendums eingeführt, eine weltweite Innovation. Und St.Gallen war zusammen mit dem Thurgau der Kanton mit dem ausgedehntesten Wahlrecht der Männer; fast überall sonst galt noch der Zensus, die Abhängigkeit des Wahlrechts von Einkommen und Vermögen.
War die Schweiz demokratiepolitisch im 19. Jahrhundert der Leuchtturm, so wurde sie im Lauf des 20. Jahrhunderts zum Schlusslicht. Hauptursache dafür war die Verweigerung des Frauenstimm- und -wahlrechts bis 1971.
Heute stehen wir demokratiepolitisch wieder vor einer grossen Herausforderung. Wenn mehr als ein Viertel der ständigen Wohnbevölkerung vom Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen ist, in Städten wie St.Gallen sind es ein Drittel oder mehr, dann ist das mit den Grundprinzipien einer Demokratie auf die Dauer nicht vereinbar.
Der Schlüssel zum Stimm- und Wahlrecht ist das Bürgerrecht. Auch hier ist es interessant, wie sich die Verhältnisse in der Schweiz vom 19. zum 20. Jahrhundert verändert haben. Als die Schweiz in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts bis 1914 mit der starken wirtschaftlichen Entwicklung vom Auswanderungsland erstmals im grossen Stil zum Einwanderungsland wurde, galt die Politik, die Einbürgerung zu fördern. Wer in die Schweiz kam und blieb, der sollte so schnell wie möglich zum vollwertigen Bürger werden, der sich mit dem Land identifizierte, mit Rechten und Pflichten. Albert Einstein wurde nach fünf Jahren in der Schweiz Schweizer Bürger.
Und es war der freisinnige St.Galler Nationalrat Theodor Curti, der Ende des 19. Jahrhunderts die Einführung des ius soli forderte, das Bürgerrecht für alle, die in der Schweiz geboren werden. Theodor Curti war auch sonst ein weitsichtiger Politiker, als Regierungsrat zum Beispiel durch die Gründung der Handelsakademie, der Vorläuferin der heutigen Universität St.Gallen, vor 125 Jahren. Mit dem ersten Weltkrieg verschwand sein Vorstoss für das ius soli in der Versenkung.
Überhaupt kippte mit dem ersten Weltkrieg vieles, was die fortschrittliche Schweiz ausgemacht hatte. Mit der Niederlassungsfreiheit im europäischen Massstab, beruhend auf Gegenseitigkeit - sprich der Personenfreizügigkeit - war Schluss, für fast ein Jahrhundert. Eine eidgenössische Fremdenpolizei wurde eingeführt, und erstmals überhaupt fand der Begriff der «Überfremdung» Eingang in die behördliche Sprache, in einer Zeit, als die Einwanderung stark zurückgegangen war. Das Bürgerrecht wurde über die Jahrzehnte hinaus immer restriktiver.
In den letzten Jahrzehnten kamen zwar wieder ein paar Fortschritte zustande, in erster Linie durch die Gleichstellung der Frauen und durch die Abschaffung des Verbots der doppelten Staatsbürgerschaft. Im europäischen Vergleich ist das schweizerische Staatsbürgerrecht aber das mit Abstand restriktivste und hürdenreichste geblieben. Noch viel restriktiver als das Recht ist an vielen Orten die Praxis. In vielen Gemeinden wird Menschen mit ausländischem Pass, die sich überlegen, ein Einbürgerungsgesuch zu stellen, signalisiert: Wir wollen euch nicht. Das ist fatal, weil beim Bürgerrecht auch der Bund und die Kantone, aber in erster Linie und allen voran die Gemeinden entscheiden.
Was das in vergangenen Jahrzehnten konkret bedeutete, kann man kaum krasser beschreiben als im Buch zur Geschichte der Ortsbürgergemeinde St.Gallen zum Kapitel Bürgerrecht. Dass Leute mit tieferen Einkommen wie Arbeiter, Hilfsarbeiter und kleine Gewerbetreibende oft abgewiesen wurden, weil in ihnen mögliche Fürsorgefälle vermutet wurden, mag noch nicht wirklich überraschen, wenn man die Augen vor der Realität der Klassengesellschaft auch hier in St.Gallen nicht verschliesst. Auch nicht, dass Bewerber evangelischer Konfession systematisch bevorzugt und katholische Gesuche oft abgelehnt wurden. Dabei tat sich, ich folge der Publikation der Ortsbürgergemeinde von 2017, vor dem zweiten Weltkrieg insbesondere der Stickereifabrikant Arnold Mettler-Specker hervor, der bekanntlich ein offener Sympathisant des Nationalsozialismus war und zu den Unterzeichnern der Eingabe der Zweihundert gehörte. Diese hatte vom Bundesrat eine Anpassung an das nationalsozialistische Deutschland und insbesondere die Gleichschaltung der Presse verlangt.
Schwer erträglich ist, wie die Ortsbürgergemeinde mit jüdischen Gesuchen umging. Dazu schreibt die Publikation aus dem 2017 wörtlich (S. 123):
Nachdem schon in den Zwanzigerjahren kaum noch Jüdinnen und Juden eingebürgert worden waren, kam zwischen 1933 und 1948 kein jüdisches Bürgerrechtsgesuch zur Abstimmung. Als nach Kriegsende der Antrag des in St.Gallen geborenen Kaufmanns Eduard Flass-Schlatter vorlag, beschloss die Einbürgerungskommission mit Mehrheit die Abweisung, da ‘bei solchen Bewerbern nicht vor der dritten, in der Schweiz ansässigen Generation das Bürgerrecht erteilt werden möchte. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Ehefrau ehemalige Stadtbürgerin ist’. Ein Jahr später lagen erneut Gesuche von jüdischen Bewerbern vor, denen die Kommission aufgrund guter Rückmeldungen zustimmte, zugleich aber ausdrücklich auf eine Empfehlung verzichtete, da sie sich die Frage stellte, ‘ob die Bewerberseite mehr als zwei semitische Positionen (Nathan und Goldschmidt) enthalten darf und soll’. Sie überliess den Entscheid dem Bürgerrat, der die drei Gesuche guthiess, die Bürgerversammlung stimmte ihnen 1949 nur knapp zu.
Als Reaktion darauf entschied die Einbürgerungskommission, für 1950 nur eine ‘jüdische Position’ auf die Einbürgerungsliste zu nehmen und eine weitere zurückzustellen mit der Begründung, dass ‘der Fall Richter als jüdische Position vorzuziehen ist. Im übrigen handelt es sich bei den Gesuchen Masur und Ullmann um ehemalige Juden’. Die St.Galler Dichterin Regina Ullmann war nun katholisch und der 1938 in die Schweiz geflohene David Masur evangelisch, aber in den Augen der Kommission blieben sie unter dem Einfluss rassisch-genetischer Vorstellungen Juden. Im Dezember 1951 diskutierte die Kommission grundsätzlich ‘in Bezug auf die ursprünglich jüdischen Bewerber’. Dabei kam sie, gestützt auf den Beschluss des Bürgerrats, ‘bei der Entgegennahme jüdischer Gesuche ganz besondere Zurückhaltung’ zu üben, zur Ansicht, dass nicht mehr als zwei jüdische und ein seit 1945 konvertierter Jude auf die Liste zu nehmen seien. Fortan galt dies als Regel, ansonsten wurden die Gesuchsteller um ein Jahr zurückgestellt, oder man legte schweizerischen Juden nahe, auf eine Einbürgerung zu verzichten. Als 1956 erneut der Fall eintrat, dass mehr als zwei ‘israelitische Gesuche’ vorlagen, überliess die Kommission dem Rat ‘zu erwägen, ob die Zahl der Bewerber jüdischer Abstammung im Vergleich zur Gesamtliste angemessen ist. Der Präsident (Kurt Buchmann) betonte in diesem Zusammenhang, dass bei den Einbürgerungen neben der Beurteilung vom Standpunkt der Gemeinde aus auch die staatspolitische Bedeutung zu würdigen sei.’
So schockierend diese Praxis war, in einer Zeit, als es während des «Tausendjährigen Reichs» von 1933 bis 1945 um Leben und Tod ging, und auch noch viele Jahre danach, spricht es immerhin für die Ortsbürgergemeinde, dass sie diese schwierige Vergangenheit nicht einfach unterschlagen und ausgeblendet hat.
Kehren wir wieder zurück in die Gegenwart und zu den heutigen Realitäten in der Stadt St.Gallen. Der Zufall will es, dass der Stadtrat kurz vor Weihnachten seinen Bericht zum Postulat «St.Gallen für alle – Einbürgerungshürden senken» veröffentlicht hat. Der Bericht zeigt auf, dass die jährliche Zahl der Einbürgerungen seit 2008 abnimmt, leicht abnimmt, obwohl die Wohnbevölkerung mit ausländischem Pass ständig zunimmt. Durchschnittlich werden seit 2008 nur noch 350 bis 400 Personen im Jahr eingebürgert, also ein Bruchteil der ständigen Wohnbevölkerung, die jährlich zuzieht.
Das führt dazu, dass ein immer grösserer Teil der Bevölkerung vom Bürgerrecht ausgeschlossen ist. Oder mit anderen Worten: Das Demokratieproblem wird statt kleiner immer grösser.
Machen wir eine einfache Rechnung. Bei 350 bis 400 Einbürgerungen pro Jahr würde es bei den 25'000 Menschen ohne Schweizer Pass, die heute zur ständigen Wohnbevölkerung gehören, drei Generationen oder 70 bis 80 Jahren dauern, bis sie eingebürgert wären. Ohne dass eine einzige Person mit ausländischem Pass hinzukäme, die zum Beispiel als Pflegefachperson hierherzieht, hier arbeitet, wohnt und zur ständigen Wohnbevölkerung zählt.
All das zeigt, dass die heutige Einbürgerungspolitik den wahren Dimensionen der Frage in keiner Weise gerecht wird. Und demokratiepolitisch definitiv zum Problem geworden ist. Wie erst recht für die betroffenen Männer, Frauen und Kinder. Denn das Bürgerrecht ist immer auch mit Lebenschancen und Perspektiven verbunden. Es schafft Zugehörigkeit und Sicherheit.
Der Stadtrat hat kurz vor Weihnachten nun immerhin beschlossen, für Einbürgerungsgesuche bis zum Alter von 25 Jahren auf Gebühren der Stadt zu verzichten und jene der Ortsgemeinden auf 200 Franken zu reduzieren. Die übrigen Kosten unter Einschluss jener für Sprachtests bleiben allerdings immer noch erheblich, auch für die Jungen. Aber die Stadtbehörden senden mit der Gebührensenkung für Jugendliche und junge Erwachsene immerhin erstmals ein klares Signal aus, dass sie die Einbürgerung begrüssen und fördern wollen. Das kommt auch darin zum Ausdruck, dass sie das Einbürgerungsgespräch neu ausdrücklich als «eine Art Willkommensgespräch» bezeichnen. Das ist gegenüber früheren Positionsbezügen ein Fortschritt und eine Öffnung.
Gefragt ist indes auch die Ortsbürgergemeinde. Zwar haben die Ortsgemeinden im Kanton St.Gallen nach der heutigen Verfassung viele von ihren früheren Kompetenzen verloren. In der Stadt St.Gallen ist die Ortsbürgergemeinde aber im Einbürgerungsverfahren über die Einbürgerungsräte nach wie vor massgebend einbezogen. Das sollte ein Ansporn dafür sein, das Nötige und Mögliche zur Erhöhung der Einbürgerungsquote beizutragen. Und damit auch einen bewussten Kontrapunkt zur früheren Praxis zu setzen.
Dazu nochmals ein Hinweis aus der Publikation der Ortsbürgergemeinde aus dem Jahr 2017. Stolz wird darin verkündet, dass im Jahr 2000 mit grossem Erfolg eine Einbürgerungsaktion durchgeführt worden sei. 654 Gesuche mit 1569 Personen seien gutgeheissen worden. Zu denken gibt allerdings, dass sich diese Aktion ausschliesslich auf Schweizer Bürgerinnen und Bürger bezog, mit denen man mit dem St.Galler Bürgerrecht «das Verhältnis zu den eingebürgerten Ausländerinnen und Ausländern etwas ausgleichen» wollte. Also doch wieder ein feiner bzw. nicht so feiner Unterschied je nachdem, woher die Vorfahren einer St.Galler Ortsbürgers oder einer St.Galler Ortsbürgerin kamen?
Immerhin zeigt die Einbürgerungsaktion aus dem Jahr 2000, dass die Ortsbürgergemeinde auf dem Feld der Einbürgerung etwas erreichen kann. Wenn sie will. Wenn sie sich ein Herz fasst.
Ich hoffe nun, Ihnen mit dieser Ansprache zum Jahresauftakt nicht zu viel zugemutet zu haben. Wenn ich dazu beitragen konnte, Ihr Interesse für eines der grossen Zukunftsthemen für unser Land, für unseren Kanton und unsere Stadt zu wecken, würde mich das freuen. Denn wie wir die Weichen heute stellen, so gestalten wir auch unsere Zukunft. Bewähren müssen wir uns in unserer Zeit. Auch im Einbürgerungsrecht, auch in der Einbürgerungspolitik.
* Referat gehalten am Neujahrsbott der Burgergesellschaft St.Gallen am 13.01.2024