Exakt 50 Jahre ist es her, seit die Schweizer Männer – endlich – bereit waren, den Schweizerinnen das Stimm- und Wahlrecht einzuräumen. Die Schweiz war damit weltweit eines der letzten Länder, die zum Frauenstimmrecht Ja sagten. Das gereicht ihr nicht zum Ruhm.
Andererseits ist die Schweiz stolz auf ihre demokratische Tradition. Zu Recht. Nach den USA ist die Schweiz die zweitälteste Demokratie weltweit. Und die älteste in Europa. Unsere demokratischen Rechte sind hervorragend ausgebaut. Mit den direktdemokratischen Rechten der Verfassung von 1874 war unser Land weltweit ein Pionierstaat.
Ob die Schweiz nun voranging oder schwer in Rückstand geriet: Immer mussten die demokratischen Rechte erkämpft werden. Geschenkt wurden sie nie. Demokratischen Fortschritt gab es dann, wenn sich die dafür nötige Einsicht durchgesetzt hatte. Von selbst kam das nicht.
Heute stehen wir vor einem neuen Problem, einer neuen grossen Herausforderung. Mehr als ein Viertel unserer Bevölkerung verfügt über keinen Schweizer Pass. Und damit über keine politischen Rechte. Viele von ihnen sind in der Schweiz geboren und aufgewachsen und leben seit immer hier. Wir sind zwar nicht mehr, wie bis vor 50 Jahren, eine halbierte Demokratie. Aber leider eine Dreivierteldemokratie.
Der Zugang zum Schweizer Bürgerrecht ist heute sehr restriktiv und im internationalen Vergleich mit hohen Hürden verbunden. Das war nicht immer so.
Wichtige Faktoren, die die Einbürgerung erschweren, sind das komplexe dreistufige Verfahren mit unterschiedlichen Anforderungen je nach Kanton und Gemeinde und das Abstammungsprinzip. Die hohen Hürden führen dazu, dass viele nie eine reale Chance für eine Einbürgerung hatten, auch wenn sie in der Schweiz geboren sind und immer hier gelebt haben. Zum Beispiel dann, wenn ihre Eltern oder sie selbst öfter den Wohnsitz wechseln mussten.
Beides, die entscheidende Rolle der Gemeinden wie auch das fast reine Abstammungsprinzip stammen aus dem 19. Jahrhundert. Was die zentrale Rolle der Gemeinden betrifft, so war seinerzeit ausschlaggebend, dass für die Unterstützung Bedürftiger, zum Beispiel im Alter, das Heimatortprinzip galt. Das ist bekanntlich längst vorbei. Unterstützungsbedürftige werden im Alter nicht mehr in die Heimatgemeinde abgeschoben.
Auch das Abstammungsprinzip, das ius sanguinis, versteht sich in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der armen Schweiz des 19. Jahrhunderts. Die Schweiz war damals ein Auswanderungsland, das die Ausgewanderten mit dem Abstammungsprinzip an sich binden wollte.
Seitdem die Schweiz wirtschaftlich erfolgreich ist, ist sie kein Auswanderungsland mehr, sondern ein Einwanderungsland – wie alle wirtschaftlich erfolgreichen Länder. Oder Regionen. Die Schweiz ist hier in Europa besonders exponiert. Nehmen wir den Vergleich zu Österreich. Unser Nachbarland war vor 100 Jahren bevölkerungsmässig fast doppelt so gross wie die Schweiz. Heute liegen wir mit Österreich praktisch gleichauf.
Man kann das für die Schweiz als Problem sehen und politisch negativ bewirtschaften. Aber irgendwann muss man auch bereit sein, die Realitäten zu sehen: Die heutige Vielfalt unserer Bevölkerung als Spiegel des wirtschaftlichen Erfolgs. Als Bereicherung. Als Tatsache, die auch positive Seiten hat. Nicht nur im Fussball.
Einem Land, das in der Realität durch Einwanderung geprägt ist, stellen sich beim Bürgerrecht andere Fragen als einem Auswanderungsland. Nämlich wie wir gewährleisten können, dass die Menschen, die hier wohnen, arbeiten, leben, auch als vollwertiger Teil unserer Bevölkerung anerkannt werden. Hier muss die Schweiz ein neues Kapitel aufschlagen.
Besonders zugespitzt stellt sich diese Frage bei der sogenannten zweiten Generation. Menschen, die schon immer hier leben, die hier geboren und aufgewachsen sind und hier die Schulen besucht haben, gehören zur Schweizer Bevölkerung. Sie gehören zu unserer Gesellschaft, zu unserer Wirtschaft. Sie sind Teil der Schweiz, vollwertiger Teil unserer Gesellschaft: Das soll mit dem Bürgerrecht auch formell anerkannt werden. Diese Selbstverständlichkeit, nicht mehr, nicht weniger, verlangt die Motion für das ius soli.
Ich weiss, dass ich Ihnen mit dieser Motion etwas zumute, wenn ich an viele Debatten zum Bürgerrecht in den letzten beiden Jahrzehnten denke. Aber wir müssen beginnen, über die heutigen Realitäten nachzudenken. Darüber, was das fehlende Bürgerrecht für die vielen Menschen heisst, die seit ihrer Kindheit Teil unserer Gesellschaft, unserer Wirtschaft sind. Und was es für das Selbstverständnis unserer Gesellschaft heisst, wenn so grosse Teile unserer Bevölkerung nicht über das Bürgerrecht verfügen.
Was ich hier verlange, ist nicht neu. Schon Ende des 19. Jahrhunderts, mit dem wirtschaftlichen Aufschwung und der starken Arbeitsmigration in die Schweiz, verlangte der St.Galler Nationalrat Theodor Curti die Öffnung des Bürgerrechts. Der Bundesrat selbst befürwortete in der Folge das ius soli.
1967, also vor 54 Jahren, verlangte in diesem Rat der freisinnige Ständerat Alfred Borel mit einer Motion die Einführung eines begrenzten ius soli. Borel beklagte, dass die Hürden zum Bürgerrecht mit der Gesetzesrevision von 1952 so hoch wie nie zuvor geworden seien. Der Bundesrat mit Ludwig von Moos als damaligen Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartementes bleibe weit hinter dem Bundesrat von Anfang des Jahrhunderts zurück. Borel stellte fest, dass die mit dem Wirtschaftsaufschwung verbundene starke Einwanderung nach einem anderen Umgang mit Menschen, die ins Land gekommen seien, und ihren Kindern, verlange. Bundesrat von Moos beantragte in der Folge die Umwandlung der Motion in ein Postulat, worauf das Anliegen als Postulat überwiesen und darauf schubladisiert wurde.
Heute, bei einem so hohen Anteil unserer Wohnbevölkerung ohne Schweizer Pass wie noch nie, ist der Zeitpunkt gekommen, die Forderung nach einer Öffnung des Schweizer Bürgerrechts wieder aufzunehmen. Es geht zum einen um die menschenrechtliche Dimension für die Betroffenen, die Secondos und Secondas, das Recht auf Heimat für alle, die hier geboren und aufgewachsen sind und ihr Leben hier leben. Es ist erwiesen, dass die wirtschaftliche und gesellschaftliche Integration durch das Bürgerrecht gestärkt und gefördert wird. Und das Risiko der Diskriminierung vermindert wird.
Zum anderen geht es aber genauso um das Selbstverständnis unserer Gesellschaft als einer Gesellschaft, die allen, die hier geboren sind und hier aufwachsen, die gleichen Chancen für ihre Entwicklung bieten soll, unabhängig von ihrer Herkunft. Das ist auch das grosse Versprechen, das im Fundamentalsatz unserer Verfassung über die Rechtsgleichheit angelegt ist.
Die Herausforderung, vor der wir hier stehen, trifft nicht nur die Schweiz, sondern alle dynamischen, freiheitlichen und demokratischen Gesellschaften weltweit. Unsere Gesellschaften sind während der letzten Jahrzehnte heterogener, vielfältiger geworden. Wenn wir auf der Höhe unserer Aufgaben bleiben wollen, dann müssen wir Wege finden, die politischen Institutionen und ihre Voraussetzungen so anzupassen, dass sie allen Perspektiven bieten, die hier geboren sind, hier leben und arbeiten und Teil unserer Gesellschaft sind. Die Öffnung des Bürgerrechts ist der Schlüssel dazu.
Was wir hier vertreten, kann auch als Verfassungspatriotismus umschrieben werden. Verfassungspatriotismus meint ein staatsbürgerliches Konzept, das in einem Gegensatz zu einem ethnisch begründeten Patriotismus steht. Massgebend für den Verfassungspatriotismus ist die Verpflichtung auf gemeinsame politische Werte Pluralismus, Demokratie und Meinungsfreiheit statt Abstammungs- oder Sprachgemeinschaft.
Das trifft auch das Selbstverständnis des Schweizer Bundesstaats. Denn die Schweiz war nie eine sprachlich, ethnisch und kulturell homogene Nation. Der Staatsrechtler Carl Hilty schrieb 1875, also noch in den Gründungsjahrzehnten des Bundesstaats, in seinen berühmten «Vorlesungen über die Politik der Eidgenossenschaft»:
«Weder nach Rasse, noch nach Sprache, noch nach der Geschichte bilden die Völker der heutigen Eidgenossenschaft ein altherkömmliches Ganzes. Ihr Zusammenschluss beruht auf einem politischen Gedanken von neuerem Datum, ihre Nationalität ist noch heute nur das Werk einer Idee.»
Daran können wir anknüpfen. Was macht die Schweiz aus? Es ist die die Vielfalt unserer heutigen Gesellschaft und die Verpflichtung auf gemeinsame Werte wie Pluralismus, Freiheitsrechte und Demokratie. Demokratie aber verträgt sich nicht mit dem dauerhaften Ausschluss bedeutender Teile unserer Bevölkerung von den politischen Rechten.
Das sind die Gründe, weshalb ich Ihnen vorschlage, das Bürgerrecht über das ius soli für alle zu öffnen, die hier aufwachsen und hier leben und die deshalb zur Schweizer Bevölkerung gehören.
Ich lade Sie ein, in diese Debatte für die Zukunft unseres Landes einzusteigen.