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8. August 2018

Blog

Flankierende Massnahmen: Warum die Schweiz nicht nachgeben darf

Seit Wochen wird die sogenannte Achttage-Regel lächerlich gemacht. Um was geht es?

pstrails 196971



Warum attackieren plötzlich zwei Bundesräte und zahlreiche Schweizer Medien eine Regelung, mit der die Schweiz seit vielen Jahren gut gefahren ist?

Eigentlich wäre ja alles klar: Wiederholt hat unsere Regierung bekräftigt, dass der Schweizer Lohnschutz nicht verhandelbar ist. Es sei eine «Rote Linie», sagte sie. Zuletzt Anfang Juli. Doch die beiden freisinnigen Bundesräte tun, als gälten diese Beschlüsse für sie nicht. Medial breit orchestriert stellen sie den Schutz vor Dumpinglöhnen zur Disposition.

Der Angriff der freisinnigen Bundesräte auf den Lohnschutz ist schlicht verantwortungslos. Mit ihren unbedachten Manövern riskieren sie mutwillig, das Verhältnis der Schweiz zur EU irreversibel zu schädigen. 

Denn in der aktuellen Auseinandersetzung geht es um weit mehr als um die Frist von acht Tagen.

 

Aber beginnen wir von vorne.


Nach dem EWR-Debakel von 1992, als der Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum an der Urne abgelehnt wurde, kam im Jahr 2000 die Wende: Mit ihrem Ja zu den bilateralen Verträgen stellte die Schweizer Bevölkerung das Verhältnis zur EU auf eine neue Grundlage. Der zentrale Teil der bilateralen Verträge ist das Abkommen über die Personenfreizügigkeit. 

Entscheidend dafür, dass die Bilateralen eine starke Mehrheit fanden, waren die flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit. 

Die Gewerkschaften hatten die Bilateralen nur unter der Bedingung unterstützt, dass begleitend zur Personenfreizügigkeit innenpolitisch neue Massnahmen zum Schutz der Löhne eingeführt würden. Dieses für die Schweiz neue System setzten die Gewerkschaften in zähen Verhandlungen mit dem Bundesrat und dem Arbeitgeberverband durch. Schliesslich einigte man sich auf eine Reihe von Massnahmen, die verhindern, dass es durch die Personenfreizügigkeit zu Lohndumping kommt. Nach dem Grundsatz: In der Schweiz werden Schweizer Löhne bezahlt – auch für Lohnabhängige, die aus EU-Ländern kommen.

Die Schweiz führte die flankierenden Massnahmen autonom und mit neuen Gesetzen eigenständig ein. Ein Eckpfeiler davon ist die Pflicht für EU-Firmen, welche in der Schweiz Arbeiten ausführen wollen, diese im Normalfall acht Tage im voraus anzumelden. Denn ohne diese Frist sind wirksame Kontrollen nicht möglich.

 

Grundsatz der Nichtdiskriminierung


Die flankierenden Massnahmen – und die Achttage-Regel als Teil davon – respektieren den Grundsatz der Nichtdiskriminierung, wie er im Abkommen über die Personenfreizügigkeit ausdrücklich formuliert ist. Geschützt vor Lohndumping werden damit nicht nur schweizerische Staatsangehörige, sondern auch EU-Staatsangehörige, die in der Schweiz arbeiten. 

Als die flankierenden Massnahmen eingeführt wurden, bestritt niemand – auch nicht die EU-Kommission – dass sie mit der Personenfreizügigkeit und insbesondere mit dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung im Einklang stehen. Obschon die schweizerischen Massnahmen weiter gingen als entsprechende Regelungen anderer Länder. Es war allgemein anerkannt, dass die Schweiz wegen ihres höheren Lohnniveaus eines besonderen Schutzes bedarf. 

Was damals galt, gilt für die EU-Kommission heute nicht mehr. 

Es reicht der EU-Kommission nicht mehr, dass die flankierenden Massnahmen nichtdiskriminierend sind. Einseitig versucht sie, die Spielregeln neu zu definieren. Sie verlangt mehr Freiheiten für Firmen, die mit entsandten Lohnabhängigen Aufträge in der Schweiz ausführen. Die Massnahmen zum Schutz vor Lohndumping bezeichnet sie jetzt als «unverhältnismässige Marktzugangshindernisse». 

Mit dieser Wende stellt die EU-Kommission die kommerziellen Freiheiten der Unternehmen über den Schutz der Löhne. Das ist eine arbeitnehmerfeindliche Haltung. 

Es gibt weder rechtliche noch politische Gründe dafür, dass die Schweiz und die Schweizer Behörden diese arbeitnehmerfeindliche Wende der EU-Kommission übernehmen.

Was beim Abschluss der bilateralen Verträge galt, ist nach wie vor massgebend. Die Schweiz bleibt unter Einhaltung des Grundsatzes der Nichtdiskriminierung frei, wie sie den Schutz der Arbeitnehmenden in der Schweiz und der vielen EU-Staatsangehörigen, die in der Schweiz arbeiten, gewährleisten will. Es gibt keine vernünftigen Gründe, von diesem Prinzip abzurücken.

 

Wirksame Achttage-Regelung


Wie wirksam die Achttage-Regelung ist, zeigt die grosse Zahl von in der Schweiz tätigen EU-Firmen, bei denen Lohnverstösse festgestellt werden. Wer die Achttage-Regelung als Marktzugangshindernis diskreditiert, fördert nichts anderes als irreguläre Praktiken. 

Das Risiko von Lohndumping ist bei Entsendungen besonders hoch, weil die Löhne in der Schweiz viel höher sind als in den EU-Ländern. Seit der EU-Osterweiterung sind die Lohnunterschiede, und entsprechend die Risiken, noch einmal markant grösser geworden.

Für Firmen, die regulär arbeiten, ist die Achttage-Frist kein Problem. Dies umso weniger, als die Verordnung für Notfälle Ausnahmen vorsieht. Dass die heutige Praxis funktioniert, zeigt die Tatsache, dass die Entsendungen in die Schweiz ständig zunehmen. Kein EU-Land kennt pro Kopf mehr Entsendungen als die Schweiz. 

Die Frist von acht Tagen ist nötig, weil die Schweiz kein zentralistischer Staat ist, sondern nach föderalistischen Prinzipien funktioniert. EU-Firmen melden Entsendungen acht Tage zum voraus online an. Die Kontrollen erfolgen dann aber dezentral in den Kantonen und den Branchen. Die Erfahrung zeigt, dass – Wochenenden mit eingerechnet – acht Tage ein knappes, aber realistisches Minimum sind.


Die tatsächliche Agenda der EU-Kommission


Es wäre naiv anzunehmen, dass es der EU-Kommission in der aktuellen Auseinandersetzung nur um die Voranmeldefrist von acht Tagen geht. Die Kommission will vielmehr einen Hebel in die Hand bekommen, um auf den schweizerischen Lohnschutz als Ganzes Einfluss zu nehmen. 

In Brüssel wird offen gesagt, dass als nächstes der Angriff auf die Kautionen folgen werde, welche von den entsendenden EU-Firmen als Garantien hinterlegt werden müssen. Vertreter der EU-Kommission wollen zudem, dass die Schweiz weniger häufig kontrolliert. Es dürften in allen Branchen höchstens noch 3 Prozent der Entsendefirmen kontrolliert werden und nicht wie heute je nach Branche bis zu 50 Prozent. Man muss nicht Hellseher sein, um vorauszusagen, dass schliesslich auch der Vollzug der Gesamtarbeitsverträge ins Schussfeld der EU-Organe geraten wird.

Damit droht aber eine Demontage des Schweizer Lohnschutzes als Ganzes. 

Wenn die Schweiz jetzt nachgibt, wird sie mit Brüssel verhandeln müssen, wie sie die Schweizer Löhne vor Lohndumping schützt. Das aber wäre eine fundamentale Umkehr des heutigen Systems.


Verantwortungslose freisinnige Bundesräte


Dass die beiden freisinnigen Bundesräte der EU-Kommission nachgeben und den schweizerischen Lohnschutz zur Disposition stellen wollen, ist eine unerträgliche Provokation der Lohnabhängigen.


Und es ist verantwortungslos.

Zur Erinnerung: Als die flankierenden Massnahmen vor bald 20 Jahren beschlossen wurden, entsprach dies nicht dem Wunschprogramm des Bundesrats. Die freisinnigen Bundesräte, allen voran Bundesrat Couchepin, waren auch damals keine Freunde der Gewerkschaften. Aber: Der damalige Bundesrat wie auch die führenden Vertreter der Wirtschaft waren weitsichtig genug, nach dem Schiffbruch des EWR die notwendigen sozialen Konzessionen einzugehen. Sie wollten so verhindern, dass es zu einem weiteren Debakel kommen würde. Diese Weitsicht hat sich gelohnt.

Es gibt für die Schweiz gegenwärtig kaum eine politisch sensiblere Frage als ihr Verhältnis zur EU. Weil die Schweiz eine direkte Demokratie ist, muss dieses Verhältnis in Volksabstimmungen immer wieder bestätigt werden. 

Ein Rahmenabkommen mit der EU, das den Lohnschutz schwächt und seine  Ausgestaltung von Brüssel abhängig macht, ist an der Urne von vorneherein zum Scheitern verurteilt.

Ein solches Risiko in Kauf zu nehmen, ist mehr als fahrlässig. Der Angriff der freisinnigen Bunderäte auf den Lohnschutz muss daher gestoppt werden – je früher, umso besser.


Erfolgsrezept auch für die Zukunft


Zurzeit wird viel polemisiert: Die Gewerkschaften würden mit ihrer kompromisslosen Haltung beim Lohnschutz das Verhältnis der Schweiz zur EU blockieren. Faktisch ist es aber genau umgekehrt. Entscheidend für eine konstruktive Weiterentwicklung des Verhältnisses zwischen der Schweiz und der EU sind die Interessen der Lohnabhängigen. Nur mit ihnen werden die Abstimmungen zu gewinnen sein. Ohne rote Linie beim Lohnschutz ist dies nicht möglich.

Der Dachverband der Gewerkschaften in Europa hat in einem Schreiben an die zuständigen EU-Kommissare unterstrichen, dass er die Haltung der Schweizer Gewerkschaften unterstützt. «The accompanying mesures protect wages, not borders», schreibt er – die flankierenden Massnahmen schützen Löhne, nicht Grenzen. Sie sind nichtdiskriminierend und folgen dem Grundsatz «Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort». 


Die Lohnabhängigen in der EU haben dieselben Interessen wie die Lohnabhängigen in der Schweiz, ob mit oder ohne Schweizer Pass.