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17. Januar 2025

Blog

Joseph Spring gegen die Schweiz: Eine wichtige Erinnerung

Joseph Spring war im November 1943 als 16-Jähriger von der Schweiz an den Nazi-Staat ausgeliefert worden. Jetzt ist er kurz vor dem 98. Geburtstag verstorben.

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Vor wenigen Tagen starb in Melbourne kurz vor seinem 98. Geburtstag Joseph Spring. Wir lernten uns Ende 1997 kennen, als er sich mit einer unglaublichen Geschichte an mich wandte. Ihm war als 16-Jährigem das Schlimmste widerfahren, was die Schweiz einem Menschen antun konnte: Sie lieferte ihn an die Organe des Nazi-Staats aus. Aber nicht nur das. Die Schweizer Grenzbeamten informierten die Deutschen ausserdem darüber, dass er Jude war. Joseph Spring überlebte Auschwitz wie durch ein Wunder. Trotz der Schweizer Behörden.

Joseph Spring, der damals noch Sprung hiess, wurde 1927 in Berlin geboren. Als die Drangsalierung der Juden durch die Nazis immer schlimmer wurde, flüchtete er als 12-Jähriger nach Belgien und später weiter nach Frankreich, wo er mit falschen Papieren im Untergrund lebte. Im November 1943 versuchte er sich gemeinsam mit zwei Cousins in der Schweiz in Sicherheit zu bringen. Im Waadtländer Jura bei La Cure überquerten sie die Grenze und hofften, im «Land Wilhelm Tells» Schutz zu finden. Beim zweiten Versuch wurden sie, schon mehrere Kilometer weit im Land, von Grenzwächtern im Schnee entdeckt und, obwohl sie sich mit ihren in den Rucksäcken eingenähten richtigen Papieren als Juden ausweisen konnten, ohne jede Chance zu entkommen und zusammen mit diesen Papieren an die Nazis ausgeliefert. Über Frankreich erfolgte die Deportation in Güterwagons nach Auschwitz, wo die beiden Cousins, der eine erst 14-jährig und der andere krank, sofort vergast wurden.

Im November 1943, dem Zeitpunkt der Auslieferung Springs an die Organe des Nazi-Staats, war klar, dass Hitler den Krieg verlieren würde. Seit der kriegsentscheidenden Schlacht von Stalingrad waren mehr als neun Monate verstrichen; die sowjetische Armee hatte Kyjiw zurückerobert und stand nahe der polnischen Grenze. Die Amerikaner waren nördlich von Neapel angelangt; die Landung der Alliierten in Frankreich stand bevor.

Hitler hatte nie ein Geheimnis daraus gemacht, was den Juden im Machtbereich der Nazis drohte. Ende 1942 hatten die Alliierten öffentlich erklärt, dass die Ausrottung der Juden nicht ungestraft bleiben würde. Darüber war trotz Pressezensur auch in der Schweiz berichtet worden. Die gegen jüdische Flüchtlinge gerichtete Grenzsperre vom August 1942 hatte zu heftigen Protesten in der Bevölkerung und im Parlament geführt. Eine Klasse von Rorschacher Sekundarschülerinnen, 14-jährige Mädchen, hatte im September 1942 nach Bern geschrieben, dass es dem Willen Gottes widerspreche, Flüchtlinge in den sicheren Tod zurückzustossen.

Während die Praxis gegenüber verfolgten Juden im Herbst 1943 an Teilen der Grenze, etwa im Raum Schaffhausen und im Tessin, weniger restriktiv wurde, war es an der Grenze zu Frankreich anders. Die Auslieferung Joseph Springs war nicht nur die Folge der antisemitischen Weisungen des Bundes, sondern ganz direkt auch der Praxis des Kommandanten des Zollkreises V, Fréderic Rapp, eines notorischen und virulenten Antisemiten.

Joseph Spring schilderte seine Erfahrungen mit den Schweizer Grenzwächtern in einem Brief, mit dem er mich Ende 1997 kontaktierte. Der Historiker Stefan Keller, der mit seinem Buch «Grüningers Fall» schon die Rehabilitierung des Polizeihauptmanns und Flüchtlingsretters Paul Grüninger möglich gemacht hatte, überprüfte Springs Beschreibung im Detail. Er fand in den Archiven die Bestätigung der Auslieferung. Springs Erinnerungen und die Aktenvermerke stimmten exakt überein.

Das war die Basis für ein Genugtuungsbegehren, das ich Anfang 1998 für Joseph Spring beim Bund einreichte. Der Bundesrat lehnte dieses nach einem beschämenden Hin und Her im Juni 1998 ab. Es wurde öffentlich, dass der Entscheid mit der knappst möglichen Mehrheit von 4:3 gefallen war. Ruth Dreifuss, Pascal Couchepin und Moritz Leuenberger hatten für die Gutheissung gestimmt.

Das anschliessende Verfahren vor dem Bundesgericht wurde zu einem schikanösen, unwürdigen Hürdenlauf. War der mit Dokumenten belegte Bericht von Joseph Spring vom Bundesrat nie in Zweifel gezogen worden, bestritt das von Bundesrat Villiger geführte Finanzdepartement vor dem höchsten Gericht plötzlich, dass sich das Ganze so zugetragen hatte. Als «Beleg» diente dem Finanzdepartement die Behauptung, die Jugendherberge von La Cure, in der die drei jungen Männer übernachtet hatten, habe gar nicht existiert. Eine Recherche des Historikers Stefan Keller vor Ort bewies jedoch rasch das Gegenteil. Die Jugendherberge auf der französischen Seite von La Cure gab es nicht nur damals, sie ist auch heute noch dort. Es gibt sogar ein Foto, das Spring mit seinen unglücklichen Cousins vor der Jugendherberge zeigt.

 


Das Verhalten des Departements Villiger grenzte an Irreführung des höchsten Gerichts. Durch Zufall erfuhr ich, dass vor dem Entscheid des Bundesrats beim Bundesarchiv ein Gutachten erstellt worden war. Dieses bestätigte alle von Spring geschilderten Vorgänge. Die Chefin des Rechtsdienstes des Finanzdepartementes, anlässlich einer «Instruktionsverhandlung» vor dem Bundesgericht damit konfrontiert, wagte es daraufhin nicht mehr, dies zu bestreiten.

Vor exakt 25 Jahren, am 21. Januar 2000, lehnte das Bundesgericht die Klage in einem aufsehenerregenden Leitentscheid ab. Dass das Bundesgericht 55 Jahre nach Kriegsende in der Auslieferung von Joseph Spring und seiner Cousins in den fast sicheren Tod kein Unrecht erkennen wollte, ist bis heute ein Tiefpunkt in seiner Grundrechtsprechung (die auch grosse Zeiten kannte). Dies umso mehr, als kurz zuvor die Unabhängige Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg, die sogenannte Bergier-Kommission, in ihrem Flüchtlingsbericht zum Schluss gekommen war, dass die Schweizer Behörden, «beabsichtigt oder unbeabsichtigt», durch ihre Flüchtlingspolitik dazu beigetragen hätten, dass das NS-Regime seine Ziele erreichen konnte.

Dass dem Bundesgericht bei seinem Entscheid nicht ganz wohl war, kam einzig dadurch zum Ausdruck, dass es die Abweisung der Klage völlig unüblich, ja singulär, mit der Zusprache einer Parteientschädigung von 100'000 Franken verband.

Heute, 80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz und 80 Jahre nach Kriegsende, ist es wichtig, sich diese Zusammenhänge noch einmal in ihrer ganzen Tragweite in Erinnerung zu rufen. Die antisemitische Flüchtlingspolitik, zu der auch die für viele tödliche Initiative der Schweizer Behörden zur Kennzeichnung der Pässe deutscher Juden mit dem J-Stempel gehört, ist das dunkelste Kapitel der Geschichte der Schweiz des 20. Jahrhunderts.

Dass die Schweiz als einziges Land in Europa ihre Demokratie und Unabhängigkeit in der Nazi-Zeit verteidigt hat, auch gegen das Anpassertum bis in die hohen und höchsten Ränge, kann nicht hoch genug geschätzt werden. Gegen die Grundwerte dieser Demokratie verstiess aber die antisemitisch geprägte Flüchtlingspolitik. Die Ehre der Schweiz haben jene gerettet, die die Augen nicht verschlossen und, oft gegen Widerstände, dafür sorgten, dass den antisemitischen Weisungen zum Trotz bis zum Ende des Kriegs über 20'000 tödlich bedrohte Jüdinnen und Juden, legal oder illegal, Aufnahme und Rettung fanden.

Joseph Spring gehörte zu den letzten Überlebenden von Auschwitz. Die Geschichte seines Lebens und Überlebens, exemplarisch geschildert im Buch von Stefan Keller («Die Rückkehr. Joseph Springs Geschichte»), steht neben jener von Primo Levi («Ist das ein Mensch») oder von Jozsef Debreczeni («Kaltes Krematorium») – nur, dass sie direkt und unmittelbar mit der Schweiz und der Verantwortung der Schweiz verknüpft ist. Sie ist hoch aktuell geblieben.

 


80 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz und 80 Jahre nach Kriegsende ist es wichtig, sich an diese Zusammenhänge zu erinnern. Dies umso mehr, als Rechtsextreme und Geschichtsrevisionisten quer durch Europa im Vormarsch sind. Und auch von Kreisen, von denen das bisher nicht zu erwarten war, das Asylrecht und die Menschenrechte wie nie seit dem Zweiten Weltkrieg in Frage gestellt werden. Also ausgerechnet die grossen Lehren und Errungenschaften aus den Erfahrungen der Nazi-Zeit.

Das Bewusstsein, woher wir kommen, ist für die Gestaltung der Zukunft entscheidend. Die Lehren aus der Nazi-Zeit sind nie auf die Dauer gesichert. Sie müssen immer wieder von neuem verteidigt werden.


Literaturhinweise

  • Stefan Keller: Die Rückkehr. Joseph Springs Geschichte, Rotpunkt 2003
  • Guido Koller: Fluchtort Schweiz, Kohlhammer 2018
  • Unabhängige Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg: Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus, Chronos 2001
  • BGE 126 II 145