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24. Oktober 2014

Blog

Das grosse Potenzial der Solidarität

Gute Renten, moderate Prämien, Schutz der Löhne: Rede am Kongress des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes.

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Ich möchte diese Kongressrede mit drei Erlebnissen der letzten Wochen beginnen. Vor zwei Wochen war ich Gast an der Hundertjahr-Feier des Schweizerischen Musikerverbandes. Die Feier zum Jubiläum der Gründung der Musikergewerkschaft fand im Opernhaus Zürich statt. Der Musikerverband organisiert die Orchestermusikerinnen und –musiker sowie und überhaupt Berufsmusikerinnen und -musiker.

Früher war der Musikerverband im VSA, dem untergegangenen Dach der Angestellten. Vor 20 Jahren schloss er sich dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund an und ist seither einer unserer kleineren Verbände. An der Feier gab es keine langen Reden, sondern klassische Musik, Wagner, Schoeck, Ravel, Verdi und andere Klassiker, dargeboten von einem grossen Orchester von Musikern aus Orchestern quer durch die Schweiz und einem ebenso imposanten Chor. Die Sänger sind leider schlechter organisiert als die Musiker, weshalb ihre Arbeitsbedingungen auch schlechter sind. Der Dirigent unterstrich am Konzert im Opernhaus die unverzichtbare Bedeutung der gewerkschaftlichen Organisation, ein Profigewerkschafter hätte dies nicht besser gekonnt. Der berührendste Moment aber war der Aufruf zur Solidarität mit 200 Orchestermusikern in Rom, die wegen der extremen Sparmassnahmen nach einem Engagement von Jahrzehnten von einem Tag auf den anderen auf die Strasse gestellt worden waren. Eine Stadt ohne Orchester ist keine Stadt, sagte der Dirigent. Recht hat er.

Post-Geschichten

Ein zweiter Flash-Back. Kathrin Bärtschi ist Briefzustellerin in Bern und Mitglied von Syndicom. Sie ist aber nicht nur Zustellerin. Sie schreibt auch Porträts von Briefträgerkolleginnen und -kollegen, die vor kurzem gedruckt im Selbstverlag erschienen sind. Es sind Geschichten aus dem Alltag der Arbeit am Beispiel der Post, Menschen mit ihren Erlebnissen und Träumen und einer je persönlichen Geschichte. Und einem feinen Sensorium für das, was sich bei der Post alles verändert hat, wo seit der Zerschlagung der alten PTT kein Stein auf dem anderen geblieben ist, die Rolle des Briefs, die Automatisierung der Abläufe, der permanente Druck  auf die Zusteller, die ständigen Reorganisationen und die damit verbundene Gefahr der Degradierung des einst stolzen Briefträgerberufs. Es sind Porträts aus der Perspektive der arbeitenden Menschen. Und Geschichten mit einem präzisen Blick darauf, dass am Ende immer der persönliche Kontakt der Menschen zählt. Es sind die Menschen, welche die Post austragen. Menschen, die ein Gesicht, ihre Geschichte und ihre Würde haben. Die schreibende Briefträgerin Kathrin Bärtschi ist eines der vielen Beispiele der reichen Kultur unserer Bewegung.

Ein drittes Erlebnis aus jüngster Zeit. Der technische Leiter eines mittelgrossen Produktionsunternehmens in der Ostschweiz erzählt mir, dass bei ihnen vor kurzem ein noch nicht dreissigjähriger Absolvent der Uni St.Gallen eingestellt worden sei. Als ein langjähriger Produktionsmitarbeiter sich nach einer Herzoperation mit einem Stent-Implantat nach kurzer Abwesenheit wieder zur Arbeit zurückmeldet, sagt dieser HSG-Absolvent dem technischen Leiter, dass man sich bald von diesem 55jährigen Mitarbeiter trennen müsse, weil er sonst zu teuer komme. Und überhaupt: Man müsse dafür sorgen, dass die Älteren, und damit meinte er die über 50Jährigen, Schritt für Schritt abgebaut würden. Erstens könne man dadurch Krankheitskosten sparen. Und zweitens kämen die Jüngeren billiger. Der technische Produktionsleiter, der mir diese Geschichte erzählte, ist nicht in der Gewerkschaft. Er sagte mir, dass er aber sonst nicht wisse, wem er sie erzählen solle. Es sei verantwortungslos, wie die betriebswirtschaftlichen Kader heute ausgebildet würden. Die Einschüchterung und das Angstklima unter den älteren Mitarbeitenden seien schwer erträglich. Dabei hänge die Qualität der Produktion doch von der Sorgfalt im Umgang mit den Mitarbeitenden ab und gerade mit den Erfahrenen unter ihnen.

Dramatische Veränderungen

Die drei Begegnungen der letzten Wochen sind sehr unterschiedlich, stehen aber in einem Zusammenhang. Sie sind Beispiele für die Vielfalt und den reichen Erfahrungsschatz unserer Bewegung. Aber sie spiegeln auch dramatische Veränderungen in der Arbeitswelt, in der Tiefe der Gesellschaft: die permanent drohende Entwertung der arbeitenden Menschen, aber auch die enorme Kraft der Solidarität im Kampf gegen diese drohende Entwertung. Es sind die Gewerkschaften, in denen die vielfältigen Erfahrungen gebündelt werden. Und wo die Kraft entwickelt wird, sich gegen die Ungerechtigkeiten wirksam zu wehren.

Ich möchte jetzt ein paar wichtige Fragen ansprechen, die uns in den nächsten Jahren intensiv beschäftigen werden. Bei den Sozialversicherungen kommt die Auseinandersetzung um die Altersvorsorge in die nächste entscheidende Phase. Wir haben in der Altersvorsorge schwierige Jahre hinter uns, geprägt von permanenten Angriffen auf die Renten und das Rentenalter. Es ist uns gelungen, diese Angriffe abzuwehren und die Renten zu verteidigen – eine starke Leistung der schweizerischen Gewerkschaftsbewegung, auch im internationalen Vergleich.

Bei den kommenden Reformen kämpfen wir für eine Stärkung der AHV. Das ist eine anspruchsvolle, aber zentrale Aufgabe. Es geht um ein paar grundlegende Dinge, die wir wieder klar machen müssen. Die AHV ist die Basis der Altersvorsorge für die grosse Mehrheit der Bevölkerung mit kleinen und mittleren Einkommen. Die AHV verfügt über ein unschlagbares Preis-Leistungs-Verhältnis – für alle mit unteren und mittleren Einkommen. Das Preis-Leistungs-Verhältnis der AHV ist um ein Vielfaches besser als jenes privater Versicherungen. Die AHV rentiert für die Älteren wie für die Jüngeren. Gäbe es die AHV nicht, so müssten die Jüngeren, so müssten die Leute im Erwerbsleben für die Altersvorsorge viel mehr einzahlen. Auch die Jüngeren werden ja älter und brauchen eines Tages die Renten.

Wenn es um die grossen Lebensrisiken der Menschen geht, das Alter gehört dazu, dann gibt es kein leistungsfähigeres Prinzip als eine Sozialversicherung. Bei einer Sozialversicherung verbindet sich das Prinzip der grossen Zahl mit dem Prinzip der Solidarität. Das ergibt viel bessere Ergebnisse als eine private Lösung, ausser für eine kleine Minderheit von Superreichen. Das Prinzip der Solidarität ist auch wirtschaftlich hoch effizient. Und dem Prinzip des Egoismus, dem «jeder für sich und alle gegen alle», weit überlegen.

Besonders ausgeprägt sind die Solidarität und die Effizienz in der AHV. Das Rezept ist einfach und schlagend. Die Beitragspflicht gegen oben ist unbeschränkt, auch die hohen und höchsten Einkommen müssen voll mitzahlen. Die Renten aber sind plafoniert, mehr als die Maximalrente gibt es auch für jene mit hohen Einkommen nicht. Dieses einfache Prinzip ist leistungsfähiger als alle anderen Formen der Finanzierung. Es finanziert auch die Zunahme der Lebenserwartung.

Das sind die Grundsätze, die wir immer wieder in Erinnerung rufen müssen – gegen diejenigen, welche die Generationen aus durchsichtigen Gründen auseinanderdividieren wollen. Die AHV ist das Herz des Sozialstaats Schweiz. Mit einer starken AHV verteidigen wir die Schweiz des sozialen Zusammenhalts, die Schweiz der Solidarität zwischen den Einkommensklassen und zwischen den Generationen. Das ist die Bedeutung des Kampfs für eine starke AHV, weit über die Altersvorsorge hinaus. Die Gewerkschaften sind die entscheidende Kraft bei der Verteidigung der Renten. Und dafür, dass die AHV wieder gestärkt wird.

Prämienbelastung begrenzen

Nicht nur die Altersvorsorge, sondern auch die Krankenversicherung ist für die Lebenslage der Menschen von grosser Bedeutung. Nach der Ablehnung der öffentlichen Krankenkasse in der Volksabstimmung muss jetzt die Diskussion um die Prämienbelastung neu aufgenommen werden. Die Krankenkassenprämien sind weit stärker gestiegen als die Löhne. Und die Prämienverbilligungen liegen weit hinter der Prämienentwicklung zurück. In verschiedenen Kantonen wurden sie im Rahmen von Sparpaketen gar abgebaut. Vor 20 Jahren hatte das neue Krankenversicherungsgesetz das Ziel, dass die Prämienbelastung 8% der Haushaltseinkommen nicht übersteigen darf. Davon sind wir heute weit entfernt. Die Begrenzung der Prämienbelastung muss wieder zum zentralen Thema der Gesundheitspolitik werden. Als ersten Schritt braucht es einen Ausbau statt einen Abbau der Prämienverbilligung. Längerfristig sind einkommensabhängige Prämien das Ziel. Zu einer Sozialversicherung gehört auch eine soziale Finanzierung.

Zu einem neuen grossen Konfliktfeld wird die Finanzpolitik mit den Plänen für eine Unternehmensteuerreform III. Man muss sich das einmal vor Augen halten: Da geraten einige Kantone wegen unfairer Steuervorteile für bestimmte Firmen unter Druck. Statt diese fragwürdigen Steuerpraktiken zu beseitigen, sollen als Antwort auf die Missbräuche die Steuern nun gleich für alle Unternehmen gesenkt werden. Das heisst: Als Antwort auf die Missbräuche sollen die fragwürdigen Zustände verallgemeinert statt beseitigt werden. Die Rechnung für die neuen Steuerprivilegien müsste der Bund bezahlen, der gleichzeitig den Bundesanteil an der Mitfinanzierung der AHV reduzieren möchte. Das Ergebnis wäre nichts anderes als eine weitere Privilegierung der Unternehmen auf Kosten der AHV.

Es ist doch absurd, dass die Unternehmen immer weniger Steuern bezahlen sollen. Seit es neben den natürlichen Personen – den Menschen, uns allen – auch juristische Personen gibt, die Rechte haben und Verträge abschliessen können, ist es doch klar, dass diesen Rechten auch Pflichten gegenüberstehen. Unternehmen nutzen genauso wie die natürlichen Personen die staatliche Infrastruktur. Die Unternehmen nutzen die Strassen. Sie sind darauf angewiesen, dass die Menschen ausgebildet werden. Wer zahlt das? Die Unternehmen brauchen einen Rechtsstaat, der funktioniert. Und für all das sollen sie auch bezahlen, wie alle anderen auch.

Statt neuer Steuersenkungen für Unternehmen braucht es endlich eine Korrektur des Volksbetrugs der Unternehmenssteuerreform II des unrühmlichen Bundesrats Merz. Das Bundesgericht hat festgestellt, dass das Volk vor der Volksabstimmung bezüglich der Steuervorteile für Grossaktionäre irregeführt, sprich angelogen wurde. Das gab es noch nie, dass das Bundesgericht so etwas festgestellt hat. Ein einmaliger Vorgang in der Geschichte des Bundesstaats. Milliardengeschenke für Grossaktionäre auf der einen Seite, Jagd auf die Armen bei der Sozialhilfe auf der anderen: Der Zynismus dieser Politik ist kaum zu überbieten.

Mehr Schutz bei den Löhnen

Ein paar Worte nun zur Situation nach dem 9. Februar. Wir Gewerkschaften haben nach diesem Datum klar und entschieden Position bezogen:  für die Erhaltung der Bilateralen und gegen neue Diskriminierungen. Damit blieben wir lange ziemlich allein. Zumindest in Bundesbern. Jetzt aber scheint der Bundesrat eingesehen zu haben, dass er zuerst einmal mit der EU sprechen und verhandeln muss, bevor er ein neues Gesetz in Angriff nimmt. Wenn Verträge wie jene mit der EU bestehen, dann muss man sie einhalten. Wenn man sie abändern und nicht einfach kündigen will, dann muss man mit der Gegenseite sprechen. So einfach, aber auch so elementar ist es.

Damit beginnen die Diskussionen neu. Und endlich auf einem anderen Niveau als nach dem 9. Februar. Als in manchen Köpfen aus lauter Angst vor der SVP nur noch ein möglichst harter fremdenpolizeilicher Vollzug des neuen Verfassungsartikels vorstellbar war. Früher oder später wird es eine neue Abstimmung über die bilateralen Verträge geben. Allen, die einen erfolgreichen Ausgang dieser Abstimmung wollen, muss klar sein, dass dabei die sozialen Interessen gewahrt werden müssen, der Schutz der Löhne und der Arbeitsplätze. Wer das verkennt, hat die entscheidenden Botschaften der Abstimmung vom 9. Februar nicht begriffen. Oder anders formuliert: Die nächste Volksabstimmung zu den Bilateralen entscheidet sich nicht zwischen Milliardären. Sie entscheidet sich daran, ob die Interessen der arbeitenden Menschen gewahrt sind.

Dafür braucht es Verbesserungen beim Schutz der Löhne. Die Basis dafür sind Gesamtarbeitsverträge, funktionierende Gesamtarbeitsverträge. Der Schutz der Löhne geht einher mit dem Schutz der Arbeitsplätze in der Schweiz.

Antworten, überzeugende Antworten braucht es auch für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Man muss blind sein, wenn man das soziale Leiden nicht sieht, das hinter dem Ja am 9. Februar bei dieser Altersgruppe steht. Es muss endlich Schluss sein mit dem ständigen Ruf nach einem höheren Rentenalter. Stattdessen braucht es eine Verständigung über das Ziel, dass Menschen die Möglichkeit haben müssen, bis zum Rentenalter zu arbeiten, statt aus den Betrieben herausgedrängt zu werden. Die Diskriminierung Älterer ist eine Realität. Das muss endlich ernst genommen und bekämpft werden. Die nationale Konferenz zum Thema «Ältere Arbeitnehmende» vom kommenden Frühjahr muss zu Resultaten führen.

Und es braucht Antworten für besonders betroffene Regionen, allen voran für das Tessin. Auch hier gilt, und gilt ganz besonders, dass die einzig wirksame und glaubwürdige Politik gegen Fremdenfeindlichkeit eine klare Haltung im Kampf gegen ausländerfeindliche Hetze, verbunden mit neuen Schutzmassnahmen für die Arbeitsplätze und die Löhne ist. An diesen Massnahmen hat es vor dem 9. Februar leider gefehlt.

Bevor wir aber in diese Auseinandersetzungen um die Zukunft einsteigen, müssen wir für ein klares Nein zu Ecopop einstehen. Diese Initiative tut, als ginge es den Initianten um den Schutz der Umwelt. In Tat und Wahrheit bewirtschaftet sie die Ausländerfeindlichkeit, und dies in einer noch perfideren Art und Weise als die sogenannte Masseneinwanderungsinitiative. Wer die Umwelt schützen will, muss Massnahmen zum Schutz der Umwelt unterstützen. Ecopop aber führt stracks in die Sackgasse. Das müssen wir, die aktiven Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, in den nächsten Wochen klar machen. Wir dürfen diese Initiative nicht, nicht wieder, unterschätzen. Wir müssen uns bewusst sein, welche Verheerungen gewisse Medien mit den absurden Begriff vom «Dichtestress» in vielen Köpfen angerichtet haben. Einem Begriff, der aus der Biologie stammt. Bei der Beschreibung sozialer Zusammenhänge unter Menschen hat er nichts verloren, sondern vielmehr katastrophale Folgen. Politische Kampfbegriffe zur Abwehr von Menschen sind nicht harmlos. Denken wir nur an die schändliche Politik mit der Parole «Das Boot ist voll» zur Zeit des Zweiten Weltkriegs. Bekämpfen wir die menschenfeindliche Ecopop-Initiative offensiv. Es kommt auf uns an. Auch auf uns.

Verunglimpfte Menschenrechte

Gleichzeitig müssen wir uns mit den Folgen des 9. Februar auseinandersetzen. Im Rausch seines Erfolgs geht der Milliardär aus Herrliberg zum Angriff auf die Menschenrechte über. Die Menschenrechte werden als «fremdes Recht» denunziert. Menschenrechte seien «fremdes Recht», so lautet dieser Auswurf reaktionären Denkens. Die Schweiz müsse sich daher von der Europäischen Menschenrechtskonvention verabschieden.

Um die Tragweite von dem zu verstehen, was die Reaktionäre unter Führung des Milliardärs von Herrliberg vorschlagen, braucht es einen Blick zurück in die Geschichte. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die französische Erklärung der Menschenrechte von 1789 haben zum ersten Mal die elementaren Menschenrechte zusammen mit der Gleichheit der Menschen wirkungsmächtig verkündet. Mit weltweiter Ausstrahlung, auch in die Schweiz. Dass alle Menschen von Natur aus gleich sind und ihnen von Natur aus die elementaren Menschenrechte zukommen: Das war eine Proklamation von so elementarer Wucht, dass sie weltweit einschlug. Sie galt für alle unterdrückten Menschen, denen diese Rechte vorenthalten wurden. Auch in der Schweiz wurden so die jahrhundertealten Untertanenverhältnisse hinweggefegt.

Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und dem Zivilisationsbruch durch den Nationalsozialismus war die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 der Leitstern der Menschheitsentwicklung. Zu den klassischen bürgerlichen Freiheiten kamen die elementaren sozialen Rechte. Diese weltweit geltenden Menschenrechte sind die Basis der Fortschritte im Weltmassstab.  

Die Schweiz war immer Teil dieser gemeinsamen Geschichte des Westens. Wichtige Etappen waren die Bundesverfassung von 1848 als Resultat der damals einzigen erfolgreichen Revolution in Europa, die Anerkennung ungeschriebener Freiheitsrechte durch das Bundesgericht in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts und die Ratifikation der Europäischen Menschenrechtskonvention, die möglich wurde, nachdem endlich auch in der Schweiz das Frauenstimmrecht eingeführt war. Die Europäische Menschenrechtskonvention ist wie die UNO-Menschenrechtspakte Teil unserer Geschichte und unserer Verfassung geworden. Die Menschenrechte haben den Menschen in unserem Land ungezählte Fortschritte gebracht.

Das Recht begrenzt die Macht

Als Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter wissen wir, was Rechte bedeuten, und wie wichtig es ist, Rechte zu haben. Das ganze Arbeitsrecht besteht aus Rechten, auf die sich die abhängig arbeitenden Menschen berufen können. Ohne diese Rechte wären sie der Willkür der wirtschaftlich Mächtigen ausgeliefert. Das Recht begrenzt die Macht. Das gilt für das Arbeitsrecht genauso wie für die Menschenrechte.

Wenn wir die Menschenrechte und die Arbeitsrechte verteidigen, dann verteidigen wir die grossen zivilisatorischen Errungenschaften der Menschheit. Die Menschenrechte mit der Europäischen Menschenrechtskonvention sind unsere Rechte. Wir dürfen sie weder durch die alten noch durch die neuen Reaktionäre in Frage stellen lassen.

Zu den Menschenrechten gehören nicht nur die bürgerlichen Freiheiten. Sondern auch die sozialen Rechte. Zur Freiheit gehört, wie es die Atlantik-Charta 1941 in unvergleichlicher Weise formuliert hat, nicht nur die Meinungs- und Religionsfreiheit, sondern auch die Freiheit von Not. Menschen in grosser wirtschaftlicher und sozialer Not sind nicht frei.

Die Menschenrechte und der Sozialstaat müssen deshalb im Begriff der Freiheit zusammengedacht werden. Der Sozialstaat ist für die grosse Mehrheit der Menschen die Voraussetzung von Freiheit. Diese Erkenntnis war die Basis der positiven Entwicklung in den Jahrzehnten nach 1945. Hinter diese Errungenschaften dürfen und wollen wir nicht zurückfallen.

Deshalb, auch deshalb sind die Gewerkschaften, ist das gewerkschaftliche Bewusstsein, ist der gewerkschaftliche Kampf so wichtig. Die Entscheide von heute prägen nicht nur die Bedingungen, unter denen wir heute leben. Sie schaffen auch Voraussetzungen für künftige Generationen.

Gewerkschaften sind entscheidend

Wir leben in einer Zeit einer unglaublichen Beschleunigung und gewaltigen technologischen Entwicklung an der Grenze des Vorstellungsvermögens. Ob diese Entwicklungen den Menschen dienen oder im Gegenteil ihre Freiheiten bedrohen und zu immer mehr Ungleichheit und Unsicherheit führen, hängt von politischen Entscheidungen ab. Die Stärke der Gewerkschaften ist entscheidend dafür, ob die Entwicklung immer unsozialer oder endlich wieder sozialer wird.

Die Schweizer Gewerkschaften haben sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten verändert. Die Zahl der organisierten Frauen hat stark zugenommen. Die schweizerische Gewerkschaftsbewegung gehörte im europäischen Vergleich zu den ersten, in denen Migrantinnen und Migranten vollwertige Mitglieder wurden und gewerkschaftspolitisch eine wichtige Rolle spielten. Die heutige Vizepräsidentin des SGB und Co-Präsidentin der Unia und der Vizepräsident des SGB und Präsident des SEV sind, wie viele andere Gewerkschaftskader, Kinder von Saisonniers. Sie haben in ihrer eigenen Biografie erfahren, was sich in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten zum Positiven verändert hat. Auch dank der Gewerkschaften. In den Gewerkschaften haben alle arbeitenden Menschen unabhängig von ihrer Herkunft die gleichen Rechte. Wir sind ein Spiegel der Schweiz der Arbeit im besten Sinne des Wortes. Ein Stück reale Schweiz in ihrer Vielfalt.

Aber, Kolleginnen und Kollegen, unsere Organisationen müssen auch wieder wachsen, vor allem dort, wo die Beschäftigung wächst und der gewerkschaftliche Organisationsgrad tief ist. Lange meinte man, und glaubten auch viele bei uns, dass die Gewerkschaften bei all den Veränderungen in den Sektoren, wo wir traditionell stark waren, angesichts der fortschreitenden Individualisierung, nur schrumpfen könnten. Es gibt aber ermutigende Zeichen für eine Wende bei der Mitgliederentwicklung. Wir wollen und wir müssen wachsen.

Es gibt ein grosses Potenzial für Solidarität, auch in der schweizerischen Gesellschaft, ein grosses Potenzial für das überlegene Prinzip der Solidarität. Packen wir es an. Oder um es mit dem Leitspruch des ersten schweizerischen Arbeitersekretärs Herman Greulich zu sagen: «Licht in die Köpfe, Feuer in die Herzen!»