Das Deutsche Historische Museum in Berlin zeigt derzeit die Ausstellung «Roads not Taken. Oder: Es hätte auch anders kommen können».
Der Ausstellung geht es, wie der Historiker Dan Diner formuliert hat, nicht um kontrafaktische Geschichtsschreibung. Die Geschichte ist, wie sie wirklich war. Der Ausstellung geht es darum, die Zwangsläufigkeit von Entwicklungen zu hinterfragen, Möglichkeitsräumen nachzuspüren, im Hinblick auf die fatale Entwicklung bis 1945 und die günstigere danach. Das Ziel ist eine Schärfung der Urteilskraft: Es hätte auch anders kommen können.
Die Berliner Ausstellung beschäftigt sich ausführlich mit dem Hitler-Attentat der Offiziersverschwörer um Graf Stauffenberg vom 20. Juli 1944. Das war mehr als ein Jahr nach der Wende von Stalingrad im Osten. Die Alliierten hatten zu diesem Zeitpunkt in Italien bereits die Hauptstadt Rom eingenommen. Am 6. Juni 1944, dem D-Day, waren die Alliierten in der Normandie gelandet. Deutschland hatte den Krieg militärisch verloren. Wären die Attentäter am 20. Juli 1944 erfolgreich gewesen, dann hätte dies vielen Menschen das Leben gerettet. Dem grössten Teil der Nazi-Opfer hätte das aber nicht mehr geholfen. Das Menschheitsverbrechen des Holocaust, die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden, war weitgehend vollzogen. Die Berliner Ausstellung kommt im Hinblick auf das Attentat vom 20. Juli 1944 zum Schluss: Zu spät. Und zitiert ein jüdisches Opfer: «Die Offiziere, die dieses Attentat geplant hatten, hatten Hitler nie übelgenommen, dass er den Krieg begonnen hatte; sie nahmen ihm jetzt nur übel, dass er ihn verlor» (Marie Jalowicz Simon).
Maurice Bavaud unternahm sein gescheitertes Attentat auf Hitler in München am 9. November 1938. Wenn etwas den Lauf der Weltgeschichte hinsichtlich des grössten Menschheitsverbrechens des 20. Jahrhunderts verändert hätte, dann ein erfolgreiches Attentat auf Hitler vor dem Angriffskrieg, mit dem er den Zweiten Weltkrieg begann, und bevor er den Holocaust ins Werk setzen konnte. Also dann, wenn es Maurice Bavaud am 9. November 1938 gelungen wäre, Hitler zu töten. Bavaud wäre nicht wie die Offiziersverschwörer vom 20. Juli 1944 zu spät gekommen.
Das galt auch für Georg Elser, den Tischler aus Königsbronn, auch er ein Einzeltäter. Als er genau ein Jahr später als Bavaud, am 9. November 1939, seine Bombe im Bürgerbräukeller in München hochgehen liess, hatte Hitler mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 den Zweiten Weltkrieg bereits ausgelöst. Die systematische Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden in einem nicht vorstellbaren Ausmass hatte aber noch nicht begonnen. Auch Elser, hätte er sein Ziel erreicht, wäre nicht, wie die Offiziersverschwörer vom 20. Juli 1944, zu spät gekommen.
Die Weltgeschichte politisch motivierter Morde ist lang. Oft haben sie am Gang der Geschichte nichts Entscheidendes geändert. Oder wenn, dann im Negativen, denken wir an Martin Luther King oder, ganz aktuell, Jitzchak Rabin. Adolf Hitler aber war die Zentralfigur des verbrecherischen Nazi-Regimes schlechthin. Nach dem Führerprinzip war die Nazi-Herrschaft ganz auf ihn zugeschnitten: Die Wehrmacht, aber auch die Beamten leisteten ihren Eid auf Hitler persönlich. Hitler war nicht austauschbar, wie Ian Kershaw in seinem Standardwerk über Hitler zeigt. Für seine Verbrechen brauchte er Millionen, die ihm folgten. Aber Hitler war die nicht austauschbare Zentralfigur des Terrorsystems. Ohne Hitler wäre es kaum zu einem deutschen Angriffskrieg gekommen. Und es war Hitler, der die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden beschloss, ein bis dahin unvorstellbarer Zivilisationsbruch in der Geschichte der Menschheit. Wäre es Maurice Bavaud gelungen, Hitler zu töten, dann wäre die deutsche, die europäische und die Weltgeschichte anders verlaufen, weniger katastrophal.
Mindert es die Verdienste von Bavaud, dass er wenig professionell vorging, und dass er scheiterte? Die Frage stellen heisst sie verneinen. Im Unterschied zu vielen anderen, die die Gelegenheit dazu hatten, erkannte er die Gefahr, die der Menschheit drohte, und wagte es, zu handeln. Er nahm ernst, woraus Hitler selber kein Geheimnis machte. Dass Bavaud den jährlichen Aufmarsch in München am 9. November als Gelegenheit zum Handeln erkannte, spricht für seine Entschlossenheit, seine Klarsicht und seinen Mut. Zusammen mit dem professioneller ausgeführten Attentat von Georg Elser sticht sein Attentatsversuch aus der Reihe der Attentatsversuche auf Hitler hervor, wie die grosse Studie von Roger Moorhouse zeigt («Killing Hitler»).
Moorhouse, wie Kershaw ein englischer Historiker, schreibt im Bavaud-Kapitel seines Buchs bilanzierend wörtlich: «Unabhängig von seinem amateurhaften Vorgehen beeindruckt Bavauds persönliche Haltung und sein Mut. Da entschloss sich ein junger Mann, erst 22 Jahre alt, dem mächtigen Diktator entgegenzutreten, spürte ihm durch halb Deutschland nach, besorgte sich eine Waffe, brachte sich selbst das Schiessen bei und näherte sich seinem Ziel bis auf wenige Meter – all dies ohne jegliche fremde Hilfe. Er besass den Mut und die Kraft, seine Überzeugung in die Tat umzusetzen, während Abermillionen andere in ganz Europa die Tyrannei beklagten und die Hände rangen, aber nicht rührten.»
Die gleichgeschaltete deutsche Presse berichtete seinerzeit nicht über den Attentatsversuch von Maurice Bavaud. Hitler selber nahm ihn aber sehr ernst. Der Gedenkmarsch zum 8./9. November wurde sofort gestrichen, und Hitler fürchtete, dass «gegen einen idealistisch gesinnten Attentäter, der für seinen Plan rücksichtslos sein Leben aufs Spiel setze, kein Kraut gewachsen» sei. Auch die Aufführung von Schillers «Wilhelm Tell» wurde hinfort verboten.
Es ist eine Tatsache, dass die Erinnerung an Maurice Bavaud und seinen Attentatsversuch bis heute nur wenig Aufmerksamkeit erhält, völlig zu Unrecht, wie lange auch jene an Georg Elser, der heute aber immerhin mit einer Gedenkstätte geehrt wird. Das offizielle Deutschland, das lange auf das Attentat vom 20. Juli 1944 fixiert war, wollte von Bavaud nichts wissen, und die offizielle Schweiz schämte sich dafür, statt wahrzuhaben, dass Hitler-Deutschland auch für die Schweizer Demokratie die grösste und existentiellste Bedrohung in ihrer Geschichte war. Bavauds Handeln hatte keine nationale, sondern eine ideelle, transnationale Motivation.
1980 wurde Maurice Bavaud zum ersten Mal auf der Höhe seines Handelns gewürdigt, durch den herausragenden Dokumentarfilm von Villi Hermann, Niklaus Meienberg und Hans Stürm: «Es ist kalt in Brandenburg (Hitler töten)». Am 9. November 1998 fand in Neuenburg, dem Herkunftskanton von Maurice Bavaud in der französischen Schweiz, ein Symposium aus Anlass des 60. Jahrestags des Attentatsversuchs statt, mit internationaler Beteiligung. Vor zehn Jahren gab es an der Universität in München erstmals eine Gedenkveranstaltung für Maurice Bavaud.
Es hätte auch anders kommen können: Dieser Leitsatz aus der Berliner Ausstellung «Roads not taken» macht deutlich, weshalb es wichtig ist, sich an Maurice Bavaud zu erinnern. In einer Zeit, in der die letzten Zeitzeugen aus der Nazi-Zeit versterben.
(Redebeitrag anlässlich einer Veranstaltung zum Gedenken an Maurice Bavaud an der Ludwig-Maximilians-Universität in München am 9. November 2023)