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22. Februar 2022

Blog

Ein kleines St.Galler Stück Weltgeschichte der Humanität

Vor 50 Jahren starb Paul Grüninger. Hier ist meine Rede von der Gedenkveranstaltung mit Schüler:innen der Kantonsschule St.Gallen.



Paul Grüninger ist am 22. Februar 1972 verstorben. Als bescheidener, einfacher, armer Mann. Er hätte sich nicht vorstellen können, dass heute, 50 Jahre später, eine Gedenkveranstaltung stattfinden würde. Er hätte sich aber sicher sehr darüber gefreut, wie vor ein paar Jahren, als das Stadion des Fussballclubs Brühl zu seinen Ehren Paul-Grüninger-Stadion getauft wurde. Auch der heutige feierliche Anlass schlägt die Brücke zu einer neuen Generation. 


Paul Grüninger musste unten durch, nachdem er fristlos entlassen und strafrechtlich verurteilt wurde. Nie mehr fand er eine feste Arbeitsstelle, trotz guter Ausbildung als Lehrer, trotz langjähriger Berufserfahrung. Der Absturz war gewaltig. Finanziell und sozial. Die Tochter Ruth musste ihre Ausbildung kurz vor der Matura abbrechen, damit wenigstens jemand in der Familie etwas verdiente. Das deckte am Anfang gerade die Miete.

Paul Grüninger lebte nach der Entlassung während Jahrzehnten in Armut: 33 Jahre lang bis zu seinem Tod. Aber gebrochen war er nicht. Bis zu seinem Tod sagte er, dass er wieder so handeln würde wie damals. 

Der Kampf für die Rehabilitierung von Paul Grüninger war lang und schwierig. Und die Widerstände enorm. 

1968 erschien erstmals ein Zeitungsartikel im «Rheintaler». Damals nahm die Schweiz die Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei nach dem Einmarsch der Sowjetunion grosszügig auf. Der Zeitungsartikel forderte die Wiedergutmachung des Unrechts gegenüber einem Mann, der sich in der Zeit «der Barbarisierung Europas über eine inhumane amtliche Vorschrift hinweggesetzt» hatte. Der Artikel hatte ein internationales Echo. Er führte dazu, dass Paul Grüninger in Israel von Yad Vashem kurz vor seinem Tod mit der «Medaille des Gerechten» ausgezeichnet wurde. 

Die St.Galler Regierung aber bewegte sich in all den Jahren vor seinem Tod nicht. Mehr als eine dünne und dürre Anerkennung seines menschlichen Verhaltens lag für sie nicht drin, verbunden mit der Erklärung, dass man auf die früheren Entscheide nicht mehr zurückkommen könne. Sprich: nicht zurückkommen wolle.

Nicht besser ging es Vorstössen im Kantonsrat in den 1980er-Jahren; Paul Grüninger war längst gestorben. Die St.Galler Regierung behauptete, eine Rehabilitierung sei rechtlich nicht möglich, und die Mehrheit des Kantonsrates folgte ihr trotz des wieder weltweiten Echos der Forderung nach einer Rehabilitation des Polizeihauptmanns. 

Erst in den 1990er-Jahren gelang die Wende, nach dem Buch von Stefan Keller «Grüningers Fall», einer sorgfältigen historischen Recherche über die Vorgänge in den Jahren 1938 und 1939. Stefan Keller sprach mit Flüchtlingen, die von Paul Grüninger gerettet worden waren. Sie waren über die Welt verstreut und wussten nicht, was mit ihrem Retter geschehen war.

Jetzt konnte die Regierung die politische Rehabilitierung nicht mehr verhindern, auch wenn ihr das nicht passte. Wie nachher auch der Bundesrat. 

Entscheidend war der Prozess vor dem Bezirksgericht St.Gallen im Herbst 1995. Paul Grüninger wurde in einem aufsehenerregenden Revisionsprozess auf Antrag seiner Nachkommen, seiner Tochter Ruth Roduner und seiner Enkel, posthum freigesprochen. 25 Jahre nach seinem Tod. Revisionsprozesse sind im Strafrecht sehr selten, und noch seltener erfolgreich. Erst recht solche nach dem Tod. Das Gericht stellte fest, dass die Richter Paul Grüninger auf der Basis von rechtfertigendem Notstand schon 1940 hätten freisprechen müssen, wenn sie gewusst hätten (und ernst genommen hätten), was den jüdischen Flüchtlingen bei einer Rückschiebung drohte: die Verfolgung, der Tod. Und dass Paul Grüninger damals nicht nur menschlich, sondern auch richtig, rechtmässig, gehandelt hatte.  

Wenn wir verstehen wollen, was Paul Grüninger getan hat, dann müssen wir uns vergegenwärtigen, was damals geschah. Mit dem Anschluss Österreichs 1938 war das St.Galler Rheintal plötzlich die Grenze zu Nazi-Deutschland. Als die Fluchtbewegungen einsetzten, die Verfolgung immer stärker wurde und im Zusammenhang damit auch die Zahl der Flüchtlinge zunahm, verfügte der Bundesrat am 18. August 1938 die Grenzsperre. Ein Visum gab es in der Sprache des Bundesrates nur, wenn «einwandfrei festgestellt» sei, dass es sich nicht um Juden handle. 

Schockierend noch heute, wie der Bundesrat die Massnahmen begründete, die sich gegen die bedrohten Flüchtlinge richteten, und gegen niemanden sonst: «Wenn wir einer unseres Landes unwürdigen antisemitischen Bewegung nicht berechtigten Boden schaffen wollen, müssen wir uns mit aller Kraft und, wo es nötig sein sollte, mit Rücksichtslosigkeit der Zuwanderung ausländischer Juden erwehren, ganz besonders von Osten her». Unglaubliche behördliche Sätze aus Bundesbern: antisemitische Massnahmen, die mit der Gefahr von Antisemitismus begründet werden.

Die Grenzsperre vom August 1938 war der direkte Vorläufer des Judenstempels, der grössten Schande in der Geschichte unseres Bundesstaats. Der Judenstempel war von den Nazis auf Drängen der Schweizer Behörden eingeführt worden. Damit sie gewöhnliche bzw. arische Deutsche von den verfolgten Jüdinnen und Juden unterscheiden konnten. Und damit dafür gesorgt war, dass der Stempel nicht beseitigt werden konnte, liessen sie seine Qualität in Bern chemisch untersuchen. 

Die schweizerische Beteiligung an dieser tödlichen Massnahme wurde der Öffentlichkeit gegenüber geheim gehalten. Und das Parlament über die Hintergründe angelogen. Die schweizerische Initiative kam erst in den 1950er-Jahren ans Licht. Als gewaltiger Skandal, so unerträglich war die Vorstellung, dass Schweizer Behörden in die Massnahmen der mörderischen antisemitischen Bürokratie der Nazis verstrickt waren.

Zurück zur Grenzsperre: Am Tag zuvor wurden die kantonalen Polizeikommandanten und die zuständigen Regierungsräte zu einer Konferenz in Bern einberufen, wo die neuen Massnahmen gegen die Jüdinnen und Juden vorgestellt wurden. Grüninger wehrte sich laut Protokoll gegen die Grenzsperre mit den Worten: «Die Rückweisung der Flüchtlinge geht schon aus Erwägungen Menschlichkeit nicht. Wir müssen viele hereinlassen.». Die Bedenken nützten nichts. Ab dem 18. August 1938 galt die Grenzsperre. 

Was Paul Grüninger nun tat und geschehen liess, rettete die Flüchtlinge, die ab diesem Datum ins Nazi-Reich hätten zurückgeschafft werden müssen. Das geschah mit einem einfachen bürokratischen Akt, einem Akt der Menschlichkeit: der Vordatierung der Einreise der Flüchtlinge vor das Datum der Grenzsperre, auch wenn sie erst Wochen und Monate nach der Grenzsperre in die Schweiz gekommen waren. Diese Vordatierung war eine Amtspflichtverletzung. Sie führte zur fristlosen Entlassung und zur strafrechtlichen Verurteilung. Aber sie rettete diesen bedrohten Menschen das Leben. Es waren bürokratische Akte, aber im Gegensatz zu den antisemitischen bürokratischen Massnahmen bürokratische Akte der Menschlichkeit. 

Was sagt uns das Beispiel von Paul Grüninger? Auch wenn die Verhältnisse schwierig, sehr schwierig sind, gibt es immer wieder Spielräume der Menschlichkeit.

Jede Generation steht wieder vor eigenen Fragen. Herausforderungen, vor denen sie sich bewähren muss. Aber immer kommt es wieder auf die eigene Haltung an. Die eigene Urteilskraft. 

Paul Grüninger hat die Augen vor den grauenhaften Vorgängen, die sich wenige Dutzend Kilometer von hier abspielten, jenseits des Rheins, nicht verschlossen, sondern so gehandelt, wie er als verantwortlicher Mensch und Beamter zu handeln müssen glaubte. Auch wenn er dafür nachher einen gewaltigen Preis bezahlte.

Die Schweiz war nicht verantwortlich für das, was Nazi-Deutschland den Jüdinnen und Juden antat. Die Schweiz war damals die einzige Demokratie in Europa geblieben. Aber sie hätte mehr tun können für die Verfolgten. Die Ehre der Schweiz haben damals nicht die Behörden gerettet, die für die antisemitische Flüchtlingspolitik verantwortlich waren. Sondern jene, die trotz den Weisungen aus Bern Flüchtlinge gerettet haben.

Paul Grüninger hat in einer schwierigen Zeit ein kleines St.Galler Stück Weltgeschichte der Humanität geschrieben.