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4. Juni 2015

Blog

Vom Schweizer Meister 1915 zum Meister der Jugendintegration 

Der SC Brühl feiert 100 Jahre Meistertitel. Und ist ein Beispiel für Offenheit.

Wimpel

 
Diese bescheidene Feier zur Erinnerung an den grössten Erfolg der Brühler Vereinsgeschichte ist ein schönes Kontrastprogramm zu den Schlagzeilen, die der Fussball, ausgehend vom Zürichberg, derzeit im Weltmassstab macht. Bei Brühl geht es nicht um den grossen Kommerz und nicht um das grosse Geld, geschweige denn um Korruptionsvorwürfe. Sondern um die Freude am Spiel. Die Freude für jene, die auf dem Spielfeld stehen, wie für die vielen, die zuschauen, mitfiebern und die Tabellen verfolgen. Das Spiel ist und bleibt das Herz des Fussballs, dem gewaltigen Kommerz zum Trotz.

Am Anfang war Begeisterung

1915, vor hundert Jahren, war der Sportclub Brühl erst 14 Jahre alt. Er hiess noch FC Brühl. Vieles war improvisiert und unzulänglich. Aber die Begeisterung war wichtiger. Sie half über Rückschläge hinweg. Und führte zu Erfolgen, die kurz vorher nicht für möglich gehalten worden waren. Das war auch in der Saison 1914/15 so. Nach dem Ausbruch des ersten Weltkriegs war eine reguläre Meisterschaft nicht mehr möglich. Um sie trotz Mobilmachung nicht ausfallen zu lassen, wurden vier Regionalgruppen gebildet. Aus diesen wurden dann die Finalisten ermittelt. Brühl gewann die Regionalgruppe Ost im Entscheidungsspiel gegen den FC St.Gallen. Den Halbfinal gewann Brühl gegen Aarau. Auch das wieder erst im Wiederholungsspiel. Der Protest gegen ein Offsidetor der Aarauer im ersten Match war erfolgreich gewesen.

Der Final wurde am 6. Juni 1915 ausgetragen, also vor hundert Jahren. Der Gegner war der grosse Favorit Servette. Paul Grüninger schrieb in der Jubiläumsbroschüre zum 25-jährigen Bestehen des Clubs: «Die gesamte schweizerische Fussballergemeinde tippte auf einen klaren Sieg der Welschen. Allein, unsere Spieler, von welchen 9 direkt von anstrengenden Märschen mit "Sack und Pack" zum Final erschienen, arbeiteten (...) mit bewunderungswürdiger Energie und Ausdauer einen schönen 3:0-Erfolg heraus, wodurch unser Verein zum Schweizer Meister der Serie A, Saison 1914/15, gestempelt wurde.» - Die Tore schossen Robert Fischer, Karl Bürgi und der Brasilianer Ary Patusca. Der noch nicht volljährige junge Brasilianer war mit seiner Eleganz und Technik der Star. Zum FC Brühl stiess er, weil er zur Ausbildung ins Institut auf dem Rosenberg geschickt worden war.

Brühl überholt den FC St.Gallen

Für Brühl war das ein früher, grossartiger Höhepunkt der Vereinsgeschichte. Brühl konnte dadurch den älteren und viel reicheren FC St.Gallen vorübergehend überholen. Welche Rivalität damals im Fussball-St.Gallen herrschte, zeigt die Tatsache, dass sich der FC St.Gallen nach Kräften, wenn auch vergeblich, gegen die Aufnahme von Brühl in die Nationalliga A gewehrt hatte.

Persönlich habe ich Brühl natürlich erst viel später erlebt. Das war in den 1960-Jahren, einer Zeit, die auch schon lange wieder Geschichte ist. Damals spielten Brühl und St.Gallen beide als starke Mannschaften in der seinerzeitigen Nationalliga B. Die Stadt war in diesen Jahren in einem Ausmass polarisiert, wie man sich das heute kaum mehr vorstellen kann. Der erste tiefe Graben war jener zwischen Katholiken und Protestanten; es waren die letzten Jahre des Kulturkampfs. Aber vorübergehend elektrisierte der Fussball mit zwei ähnlich starken Stadtmannschaften nicht weniger. Im Osten der Stadt war der Gegensatz beidseits des sogenannten Jordans besonders schroff. Aufgewachsen im Neudorf und im Krontal und von der Herkunft her sowieso war ich selbstverständlich ein Brühler. Das Fussballfieber dieser Jahre nach dem Aufstieg von Brühl in die Nati B mit dem legendären Richard Dürr war unvergleichlich. In meiner Erinnerung kann da nicht einmal die Stimmung nach dem Meistertitel des FC St.Gallen im Jahr 2000 mithalten. 

Brühl hat seither und überhaupt seit dem unerwarteten Meistertitel von 1915 bekanntlich sehr unterschiedliche Zeiten erlebt. Bessere und schlechtere. Aber wir haben in den letzten Jahren gesehen, dass Brühl als zweiter Stadtclub wieder eine enorme Vitalität ausstrahlt. Eine Vitalität, die über den Tabellenplatz in der abgelaufenen Saison weit hinausreicht.

Brühl setzt Massstäbe

Fussball heisst Integration von jungen Menschen unterschiedlichster Herkunft. Auch von Jugendlichen, die von unten und von ganz unten kommen. Brühl setzt hier schweizweit Massstäbe. Mit grossem Erfolg. Es geht nicht nur um Talentförderung. Viele erwerben hier Kompetenzen und bekommen Perspektiven, die sie sonst vielleicht nie hätten. Quer durch die sozialen Schichten. Es wäre eine grosse Dummheit, wenn die Sparideologie auf Bundesebene jetzt gerade die Jugendförderung treffen würde, die bei Brühl im Zentrum steht. Die Abbaupläne bei der Jugendförderung können gestoppt werden. Der Ständerat hat vor einigen Tagen klare Zeichen in diese Richtung gesetzt.

Der Brühler Geist der Offenheit und der Solidarität reicht weit zurück. Daran erinnert hat mich bei der Vorbereitung dieses Anlasses Christoph Bischof, heute Kantilehrer in St.Gallen. Er hat 1982, soweit ich sehe, in der Schweiz die erste sozialgeschichtliche Arbeit über den Fussball verfasst, angeregt durch entsprechende Forschungen in England. Dieser englisch-schweizerische Zusammenhang kommt vielleicht nicht von ungefähr: Die Schweiz war nach dem Pionierland England ja auch das erste Land auf dem Kontinent, wo der Fussball sich zu entwickeln begann. Die Arbeit von Christoph Bischof befasste sich mit der Fussballstadt St.Gallen und der Rivalität zwischen Brühl und St.Gallen. Mit einem deutlichen Sympathiebonus für Brühl.

Christoph Bischof hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass es für Brühl in den Dreissiger-Jahren, nach der Machtergreifung der Nazis und der Verfolgung der Juden, eine Selbstverständlichkeit war, Spieler des jüdischen Wiener Fussballclubs Hakoah aufzunehmen. Im Gegensatz zum FC St.Gallen. So wie in Zürich der Arbeiterclub FCZ Juden aufnahm und die Noblen von GC sie ablehnten.

Brühl und Paul Grüninger

Wie mit niemandem sonst verknüpft ist Brühl mit dem Namen von Paul Grüninger. Paul Grüninger war nicht nur zweimal Präsident des Clubs und Stürmer in der Mannschaft von 1914/15. Auch wenn er am entscheidenden Finalspiel von Bern gegen Servette nicht dabei war. Paul Grüninger hat nach dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland als St.Galler Polizeikommandant Hunderten, wenn nicht Tausenden von tödlich bedrohten jüdischen Flüchtlingen die Einreise erlaubt. Und ihnen dadurch das Leben gerettet. Er verstiess dadurch gegen die antisemitischen Weisungen von Bundesbern, welche die Grenze für die verfolgten Juden, und nur für sie, sperrten. Nichtjüdische Österreicher und Deutsche durften ungehindert einreisen.

Paul Grüninger hat für sein menschliches Verhalten teuer bezahlt, durch die Entlassung aus dem Amt, durch die strafrechtliche Verurteilung und durch ein jahrzehntelanges Leben in Armut bis zu seinem Tod. Seine Rehabilitierung musste gegen heftigen Widerstand der Behörden erkämpft werden. Wie wir uns erinnern können, galt dies auch für die Benennung des Stadions als Paul-Grüninger-Stadion. Die Tochter von Paul Grüninger, Ruth Roduner, hat mir erzählt, dass ihn die wenngleich späte Ehrung durch den SC Brühl vielleicht am meisten gefreut hätte. Paul Grüninger blieb bis zu seinem Tod im Herzen ein Brühler.  

Ein starkes Zeichen

Der SC Brühl hat vor ein paar Wochen ein starkes Zeichen gesetzt, indem er Flüchtlinge mit einen Gratiseintritt zu einem Heimspiel einlud. Noch wichtiger als der Gratiseintritt war die damit verbundene Haltung der Offenheit unabhängig von Herkunft, die heute leider wieder alles andere als selbstverständlich ist. Der SC Brühl hat mit dieser Aktion eine neue Tür nach vorne geöffnet. Ein Schritt, der nach Nachahmung und nach Wiederholung ruft. Denn jede Generation muss sich wieder in ihrer Zeit bewähren. Das Brühler Beispiel steht dafür, dass der Fussball ein Spiel der Hoffnung bleibt.

Wenn wir heute 100 Jahre Schweizer Meister feiern, dann schauen wir deshalb nicht nur in die Vergangenheit. Sondern auch in die Zukunft: Brühl als Meister der Nachwuchsförderung und der Jugendintegration.