Bei der Einführung der EFAS, der einheitlichen Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen, handelt es sich um ein äusserst ambitioniertes, komplexes und langfristiges Projekt. Deshalb sollte eine sorgfältige Nutzen- und Risikoabwägung vorgenommen werden.
Betrachten wir also zunächst einmal den angestrebten Nutzen:
- Bei der Begründung zu EFAS wird von der Hypothese ausgegangen, dass die Verlagerung von stationären zu ambulanten Eingriffen zu Minderkosten für die Kantone und zu Mehrkosten für die obligatorische Krankenpflegeversicherung OKP führt.
- Daraus entstehen, gemäss Hypothese, Fehlanreize in der Form, dass Kantone oder Versicherer unsachgemässe Entscheide zugunsten des einen oder anderen Behandlungsweges treffen, um sich Kostenvorteile zu verschaffen. Diese sollen mit Einführung der EFAS eliminiert werden.
- Durch eine einheitliche Finanzierung würden in dieser Interpretation Leistungserbringer und Versicherer dazu ermuntert, die jeweils beste Lösung für das Patientenwohl zu treffen und auf unsachgemässe Entscheide zu verzichten, weil aus der Wahl des Behandlungsweges für sie keine Kostenvor- oder -Nachteile mehr entstehen würden.
Der Bundesrat hat 2018 beschlossen, gewisse Eingriffe ab 2019 nur noch ambulant zu finanzieren. Da dieser Beschluss durch ein regelmässiges Monitoring des OBSAN ausgewertet wird, haben wir die Möglichkeit, die Ausgangshypothese der Kostenverlagerung in einem gut abgegrenzten Bereich zu überprüfen, und sie vom generellen Kostenwachstum im ambulanten Bereich zu unterscheiden.
- Anhand des Berichts 08/21 des Gesundheitsobservatoriums OBSAN «Ambulant vor stationär» stellen wir fest, dass die vom Bundesrat verordnete Verlagerung einiger stationäre Eingriffe auf ambulant, von Krampfadern bis zur Kniearthroskopie, zu einer Senkung der Kosten für die Kantone und für die obligatorische Krankenpflegeversicherung OKP geführt hat. Es handelt hier also um eine Win-Win-Situation, und nicht um einen Interessenkonflikt, aus dem sich Fehlanreize ableiten lassen könnten.
- Wir stellen zweitens fest, dass weder Kantone noch Versicherer die Möglichkeit haben, den Entscheid von Patienten und Leistungserbringern für den ambulanten oder stationären Behandlungsweg zu beeinflussen. Und dies in der Praxis auch nicht versuchen. Auf der anderen Seite reagieren Leistungserbringer auf die Höhe der Vergütung, und nicht auf deren Herkunft.
- Wir stellen drittens fest, dass Kantone, die in der Krankenversicherung zum Beispiel im Bereich der Prämienverbilligung als grosszügig gelten (BS, VD, NE, GE) keinen überhöhten Anteil an stationären Behandlungen aufweisen, sondern im Gegenteil einen höheren Anteil an ambulanten Kosten. Die im Bereich der Prämienverbilligung sparsamen Kantone hinken bei der Verlagerung in den ambulanten Bereich dem schweizerischen Durchschnitt hintendrein.
Die Hypothese der Fehlanreize und der Kostenverlagerung stationär zu ambulant lässt sich in der Realität also nicht nachvollziehen.
Wenn die Kostenerhöhung der letzten Jahre im ambulanten Bereich, insbesondere bei den niedergelassenen Spezialist:innen, nicht auf eine Kostenverlagerung von stationär auf ambulant zurückzuführen ist, dann führt das zur Schlussfolgerung, dass dieser Bereich, der ausschliesslich von der OKP finanziert wird, offensichtlich nicht genügend gesteuert wird. Die Verlagerung der ganzen Finanzierung zu den Krankenversicherern schafft hier keine besseren Bedingungen.
Das zeigen auch die im Bereich der Zusatzversicherung gemachten Erfahrungen, wo ja ausschliesslich die Versicherer das Sagen haben. Im Dezember 2020 musste die Finma dafür sorgen, dass Doppelzahlungen für bereits durch die OKP bezahlte Leistungen eingestellt und nicht begründbar hohe Tarife korrigiert werden. Wir sollten uns deshalb vor Illusionen von der kostendämpfenden Wirkung der einheitlichen Leistungsfinanzierung hüten.
Wie steht es nun mit den Risiken der EFAS-Reform?
- Das erste Risiko besteht darin, dass die Politik, die Krankenversicherer und die Kantone in den nächsten Jahren viel Aufwand für Themen betreiben, die nichts oder nichts Wesentliches zur Verbesserung der Qualität oder der Effizienz des Gesundheitswesens beitragen. Ich habe vorhin von den Kostensteigerungen im Bereich der niedergelassenen Spezialist:innen gesprochen: Seit 26 Jahren Krankenversicherungsgesetz haben wir immer noch keine transparenten Kostenausweise oder einheitlichen Rechnungslegungsvorschriften, die es uns ermöglichen würden, Kosten und Vergütungen von Leistungen einander gegenüberzustellen. Die weitgehend von der OKP finanzierten Einkommen der Spezialist:innen bleiben seit Jahren ein Geheimnis. Warum reden wir von einer einheitlichen Finanzierung bevor wir dafür gesorgt haben, dass die einheitliche Transparenz über Kosten und Vergütungen hergestellt worden ist und wir wissen, was wir warum zu finanzieren haben?
- Das zweite Risiko besteht darin, dass bestehende Kontrollmechanismen der Kantone, die das Leistungsgeschehen zumindest im stationären Bereich überwachen, geschwächt werden. Damit könnten unnötige oder unwesentliche Eingriffe an Patient:innen mit leichten Beschwerdebildern weiter zunehmen, und die Kosten steigen.
- Das dritte und in meinen Augen grösste Risiko besteht im Bereich der Pflegefinanzierung, wo heute kantonal sehr unterschiedlich ausgelegte Finanzierungs- und Kontrollsysteme bestehen. Diese sind zwar nicht perfekt, haben aber im Gegensatz zu unseren Nachbarländern Deutschland und Frankreich in den letzten 20 Jahren nicht zu grösseren Missbräuchen und Skandalen geführt. Das ist im Bereich der Langzeitpflege, wo wir es mit besonders abhängigen und fragilen Patient:innen zu tun haben, nicht wenig.
- Wir sollten uns schliesslich bewusst sein, dass die im Bereich der Langzeitpflege geplante Einführung eines neuen Tarifsystems immer zu einem Kostenschub führt, bevor die Kontrollmechanismen greifen. Kostensteigerungen können vielleicht teilweise wieder korrigiert, niemals aber kompensiert werden. Gleiches gilt für die Kontrolle von Mindeststandards und Qualität in den Pflegeheimen: Systemumstellungen führen immer mindestens vorübergehend zu einem Kontrollverlust, der zunächst einmal mehr Kosten und schlechtere Behandlungsqualität für die unmittelbar Betroffenen riskiert.
Stellen wir also den angestrebten Nutzen von EFAS den erheblichen Risiken gegenüber, dann überwiegen insgesamt die Risiken.
Es kommen weitere Argumente hinzu, welche die Skepsis noch vergrössern.
Zum einen standen die Arbeiten der Kommission unter dem Leitstern, die Interessen der Kantone gegenüber jenen der Versicherer besser zur Geltung zu bringen; es handelt sich bei EFAS ja um ein Projekt der Versicherer. Das ist der Kommission weitgehend gelungen. Allerdings geht es bei dieser Reform nicht nur um die Versicherer und die Kantone, sondern letztlich um die Versicherten, sprich die Bevölkerung als Träger:innen und Adressat:innen der Krankenversicherung. Sie sind es ja, die auch die Kosten bezahlen, sei es via Prämien, sei es via Steuern.
Somit: Wie ist die Reform aus Sicht der Versicherten zu beurteilen? So positiv es auf den ersten Blick ist, dass die Kantone via Steuerfinanzierung auch zur Finanzierung der ambulanten Leistungen beitragen, so sind doch auch die Risiken nicht zu übersehen. Bei der Pflege springen sie ins Auge. Hier haben wir mit der neuen Pflegefinanzierung, die 2011 in Kraft getreten ist, grosse Fortschritte erreicht. Die Evaluation dieser Reform hat 2018 gezeigt, dass die Reform im grossen Ganzen gelungen ist und nur in Details korrigiert werden musste. Insbesondere die Beschränkung des Pflegebeitrags der Betroffenen und die Restfinanzierung durch die Kantone schnitt aus Sicht der Bevölkerung sehr gut ab. Dass die Kantone die Verpflichtung zur Restfinanzierung loswerden wollen, heisst für die Bevölkerung nichts Gutes, auch wenn der Pflegebeitrag nach dem Vorschlag der Kommission für eine Übergangsphase von vier Jahren, aber eben nur für vier Jahre, gedeckelt werden soll. Damit ist aber der grosse Fortschritt der neuen Pflegefinanzierung für die Versicherten auf mittlere und längere Sicht wieder bedroht. Schon heute ist der Selbstzahleranteil der Versicherten in der Schweiz im internationalen Vergleich einmalig hoch. Wenn es aus Sicht der Versicherten eine Finanzierungsreform braucht, dann bei den Prämien, sprich der Prämienverbilligung.
Dass EFAS ohne Verbesserungen bei der Prämienverbilligung Risiken für die Versicherten birgt, sagt auch die Verwaltung in einem der Berichte für die Kommission. EFAS führt je nach Kanton entweder zu höheren Prämien oder zu höheren Steuerausgaben für die Finanzierung des Gesundheitswesens. Mit dem heutigen System der Prämienverbilligung besteht die Gefahr, dass diese EFAS-bedingten Sprünge bei den Prämien oder bei der Steuerfinanzierung von den Kantonen dazu genutzt werden, die Prämienverbilligung zu verschlechtern. Das kann nur verhindert werden, wenn die gesetzlichen Regeln für die Prämienverbilligung durch die Kantone korrigiert und verbessert werden. Nach den Entscheiden zum Gegenvorschlag zur Prämieninitiative ist das in weiter Ferne. So wie die Dinge heute liegen, ist das für sich allein ein zwingender Grund gegen EFAS.
Der letzte kritische Einwand zu EFAS hängt damit zusammen, dass Übertragung der Finanzierungsverantwortung allein an die Krankenkassen auch zu einer Entmachtung der Kantone im stationären Sektor führt. Im Gegensatz zu den gut verdienenden Krankenkassenbaronen, ist man versucht zu sagen, sind die Gesundheits- und Finanzdirektoren der Kantone wenigstens demokratisch legitimiert. Die Corona-Krise hat unter anderem gezeigt, dass wir bei aller Wichtigkeit der ambulanten Versorgung auch die stationäre Versorgung als Rückgrat des Gesundheitswesens gewährleisten müssen; Stichwort: Intensivpflegeplätze; Stichwort: Vorhalteleistungen. Diese Plätze werden nicht durch Marktmechanismen garantiert. Sie müssen von den Kantonen gewährleistet werden. Die Übertragung der vollen Finanzierungsverantwortung auch im stationären Bereich an die Versicherer unter Ausschaltung der Kantone läuft den Erfahrungen der Corona-Krise diametral zuwider. Auch das ist ein Grund, weshalb wir die Reform, die aus der Küche von Curafutura stammt, mit Vorsicht und dem nötigen kritischen Blick begegnen sollten. Zu viel steht für unser Gesundheitswesen und für die Bevölkerung auf dem Spiel.