Abstract:
Der Beitrag analysiert die Entwicklung des Kündigungsschutzes im Schweizer Arbeitsrecht seit den 1990er Jahren. Während neoliberale Deregulierungsversuche scheiterten, blieb der Arbeitsvertrag dominant und die Beschäftigung wuchs. Zwar wurden punktuell Verbesserungen erzielt, etwa im Lohnschutz oder bei Massenentlassungen, doch der gesetzliche Kündigungsschutz ist bis heute unzureichend. Vor allem der Schutz gewählter Arbeitnehmervertretungen ist ausgehöhlt und die Sanktionen bei missbräuchlichen Kündigungen sind zu schwach. Internationale Normen und neue Gerichtsentscheide könnten künftig Impulse für stärkere, zeitgemässe Schutzmechanismen liefern.
Mitte der 1990er Jahre, vor 30 Jahren, machte der amerikanische Erfolgsautor Jeremy Rifkin mit seinem Bestseller «Das Ende der Arbeit» Furore. Überproduktion, Massenarbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung würden die Zukunft prägen. Passend bei uns zur Untergangsstimmung und zum Pessimismus der Krise der 1990er Jahre. Diese Krise wurde in der Schweiz massgebend verursacht durch eine katastrophale Geldpolitik der Nationalbank in der Ära Hans Meyer, der ohne Rücksicht auf Verluste eine Inflation bekämpfte, die es nicht mehr gab. Und eine Wirtschaftspolitik, die für die Industrie in der Schweiz keine Zukunft mehr sah. Die Löhne seien zu hoch.
Gleichzeitig lancierten sogenannte Wirtschaftsführer ein «Weissbuch» mit dem Titel «Mut zum Aufbruch». Wirtschaftspolitisch forderte diese Plattform eine neoliberale Wende. Sie wollten für die Schweiz nachholen, was Margret Thatcher in England und Ronald Reagan in den USA fünfzehn Jahre zuvor vorexerziert hatten: Abbau des Sozialstaats, Abbau von arbeitsrechtlichen Regulierungen, Abbau des Service Public.
Wie sieht die Realität heute aus? Schon der erste Versuch, das Arbeitsgesetz zu deregulieren, führte Ende 1996 in der Volksabstimmung zum Schiffbruch. Auch mit der propagierten Senkung der Löhne liefen die neoliberalen Apostel auf. Die Lohn- und Mindestlohnkampagnen waren erfolgreich. Gleichzeitig hat sich die Zahl der Arbeitsverhältnisse, umgerechnet auf Vollzeitäquivalente, in den letzten dreissig Jahren von damals gut 3,2 Millionen auf inzwischen 4,3 Millionen erhöht. Besonders beeindruckend ist die Entwicklung bei den Frauen. Mehr als die Hälfte des Zuwachses in diesen dreissig Jahren geht auf ihr Konto.
Ökonomisch heisst das nichts anderes, als dass, was immer an den prekären Rändern geschieht, Stichwort Plattformarbeit, die Arbeit im Arbeitsverhältnis die dominierende Form der Verwertung des Arbeitsvermögens durch die Unternehmen geblieben ist. Eine tragfähige Alternative zum Arbeitsverhältnis existiert offensichtlich nicht. Und das über die verschiedenen Qualifikations- und Hierarchiestufen im Unternehmen hinaus.
Erweist sich das Arbeitsverhältnis in der rechtlichen Form des Arbeitsvertrags mit Blick auf die Verwertung der Arbeitskraft somit als unschlagbar leistungsfähig und produktiv, so stellt sich die Frage, wie sich das aus Sicht der arbeitenden Menschen präsentiert. Auch für sie ist das Arbeitsverhältnis die absolut dominierende Erwerbsform. Es bildet die materielle Lebensgrundlage vom Lohn bis zur sozialen Sicherheit. Die wichtigsten Sozialversicherungen, die den Schutz vor den grossen Lebensrisiken gewährleisten, von der Altersvorsorge bis zum Schutz bei Arbeitslosigkeit, Krankheit und Unfall hängen letztlich am Arbeitsverhältnis.
Umso härter trifft der Stellenverlust, sofern man die Auflösung des Arbeitsverhältnisses nicht selbst gesucht hat, zum Beispiel zum Wechsel der Arbeitsstelle oder mit Blick auf die Pensionierung. Materiell sowieso. Arbeitslosigkeit, vor allem wenn sie länger dauert, bedeutet oft eine empfindliche Einbusse an Lebensstandard, und, wenn die Mittel knapp sind und die Arbeitslosigkeit länger dauert, auch sozialen Abstieg. Nicht nur die materiellen Folgen des Verlusts der Arbeitsstelle sind oft gravierend. Nicht weniger schlimm sind in manchen Fällen die immateriellen Auswirkungen, der Verlust der sozialen Anerkennung. Nicht selten sind als Folge des sozialen Abstiegs auch Beziehungen, die bei Schönwetter gut funktioniert haben, der Belastung nicht gewachsen. Die Kündigung erweist sich in diesen Fällen regelmässig als schwerer Eingriff in die Persönlichkeit.
Der Kündigungsschutz hat auf diesem Hintergrund die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Betroffenen vor Willkür geschützt werden. Dass der Arbeitgeber negative wirtschaftliche und sonstige Folgen von Regelverstössen und Willkür mit einkalkulieren muss. Der Kündigungsschutz ist eine Voraussetzung dafür, dass die Arbeitnehmenden die ihnen während des Arbeitsverhältnisses zustehenden Rechte wahrnehmen können.
Vor 35 Jahren, 1989, wurde ein neuer Kündigungsschutz als indirekter Gegenvorschlag zu einer Volksinitiative des einstigen Christlichnationalen Gewerkschaftsbunds in Kraft gesetzt. Diese Revision des 10. Titels des Obligationenrechts ist bis heute die entscheidende Wegmarke bei diesem Thema geblieben. Wie lautet die Bilanz der Jahrzehnte seither?
Beginnen wir mit der Gesetzgebung. Die grossen gesetzgeberischen Fortschritte im Arbeitsrecht, die es durchaus gab, erfolgten nicht mehr beim Kündigungsschutz. Zu diesen Fortschritten gehören das Dispositiv des neuen nichtdiskriminierenden Lohnschutzes als flankierende Massnahme zur Personenfreizügigkeit mit in der Schweiz zuvor unvorstellbaren Lohnkontrollen verbunden mit einer Stärkung der Gesamtarbeitsverträge und einer Kompetenz zum Erlass von Mindestlöhnen, aber auch die Verankerung der Koalitionsfreiheit und des Streikrechts in der Verfassung. Last but not least gehört das Gleichstellungsgesetz zu den grösseren positiven Veränderungen der letzten Jahrzehnte im Schweizer Arbeitsrecht.
Das bedeutet allerdings nicht, dass gesetzgeberisch beim Kündigungsschutz in diesen Jahren gar nichts mehr gegangen wäre. Hatten Bundesrat und Parlament bei der Revision des Kündigungsschutzes Ende der 1980er Jahre noch einen grossen Bogen um das Thema Schutz bei «Kollektiventlassungen aus wirtschaftlichen Gründen» gemacht, weil dies, so die damalige Botschaft, die Flexibilität und Effizienz des Arbeitsmarkts angeblich zu stark beeinträchtigen würde, so war nur wenige Jahre später alles ganz anders. Grund dafür war die Anpassung an die Regelungen von «Eurolex» als Teil des beantragten Beitritts zum EWR, die nach dem Scheitern des EWR unverändert im Rahmen von «Swisslex» in die schweizerische Gesetzgebung übernommen wurden. Neben verschiedenen eher technischen Bestimmungen waren das im Arbeitsrecht die Pflichten zur Konsultation bei Massenentlassungen und Betriebsübergängen, verbunden mit Sanktionen im Falle der Verletzung dieser Pflichten bei Massenentlassungen. Zusammen mit dem Mitwirkungsgesetz von 1993 schlugen diese Pflichten aus dem EU-Recht, wenn auch minimal umgesetzt, für die Schweiz im kollektiven Arbeitsrecht ein neues Kapitel auf.
Vor zehn Jahren sind diese Pflichten im Rahmen der Fusionsgesetzgebung verschärft worden. Erstmals wurden im Zusammenhang damit, als Folge einer langjährigen gewerkschaftlichen Forderung, auch Bestimmungen über eine Sozialplanpflicht eingeführt, wenn vorerst auch beschränkt auf Unternehmen ab 250 Beschäftigten. Ein bescheidener, bei grösseren Fusionen aber doch zählbarer Fortschritt.
Wenig Beachtung gefunden hat, dass die Tatbestände, in denen für die Kündigung Sperrfristen greifen, schrittweise erweitert worden sind. Treiber dafür waren der Schutz der Mütter, aber auch die Einführung des Rechts auf einen Betreuungsurlaub und das Recht auf Urlaub beim Tod der Mutter. Das hatte immer auch Auswirkungen auf den Kündigungsschutz, wenn auch bescheidene.
Eine grössere Dynamik als die Gesetzgebung erzeugte auf dem Feld des Kündigungsschutzes die Rechtsprechung. Es dauerte allerdings Jahre, bis die neuen Bestimmungen über die missbräuchliche Kündigung in der Praxis zu greifen begannen. Inzwischen existiert eine reiche Kasuistik, bei der ein grösseres Fachwissen nötig ist, um den Überblick zu behalten und das Instrumentarium im Einzelfall wirkungsvoll zum Einsatz zu bringen.
Bei den gesetzlich normierten Tatbeständen ragt, was die praktische Bedeutung betrifft, die sogenannte Rachekündigung, die Kündigung als Reaktion darauf, dass «die andere Partei nach Treu und Glauben Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis geltend macht» (Art. 336 Abs. 1 lit. d OR), heraus. Diese Konstellation ist öfter als gemeinhin angenommen gegeben, umfassen doch die Ansprüche nicht nur die materiellen, sondern auch die immateriellen aus dem Persönlichkeitsrecht. Auch die Beweisführung ist trotz der Beweislast für die klagende Partei häufig möglich, wenn sie mit der nötigen Sorgfalt vorgenommen wird. Der Arbeitgeber muss plausible andere Gründe für eine Kündigung vorbringen können, wenn begründet eine Rachekündigung geltend gemacht wird.
Interessant ist aber vor allem die Dynamik, die sich in der Praxis aus dem Grundtatbestand des Missbrauchsverbots entwickelt hat. Aus der reichen Rechtsprechung können die Konstellationen der Alterskündigung, der Konfliktkündigung und der Änderungskündigung herausgegriffen werden.
Anerkannt ist seit dem Leading Case des Heizungsmonteurs (BGE 132 III 115), dass die Kündigung eines langjährigen älteren Mitarbeitenden ohne zwingende Gründe grundsätzlich missbräuchlich ist. Gegen diesen Entscheid ist in arbeitgebernahen juristischen Kommentaren immer wieder polemisiert worden, was zu einer uneinheitlichen Rechtsprechung geführt hat. Die Konstellation der grundsätzlich missbräuchlichen Alterskündigung bleibt aber in der Praxis wirksam und zwingt Unternehmen, die sich rechtskonform verhalten wollen, zu einem umsichtigen Vorgehen. Die besondere Situation Älterer ist gesetzgeberisch parallel zu dieser Praxis auch durch das Recht, bei einer Kündigung ab 58 Jahren in der bisherigen Pensionskasse verbleiben zu können, und zuletzt durch die Überbrückungsleistung, eine neue kleine Sozialversicherung in Anlehnung an die Ergänzungsleistungen, anerkannt worden. Alles Beispiele dafür, wie der Einsatz der Gewerkschaften auch in schwierigeren Zeiten Früchte trägt.
In der Praxis nicht weniger wichtig als die Konstellation der Alterskündigung sind die Sorgfaltspflichten des Arbeitgebers bei Konflikten. Bevor zur Kündigung geschritten wird, muss das Nötige und Zumutbare unternommen werden, um das Problem zu beheben, ansonsten die Kündigung missbräuchlich ist.
Bemerkenswert ist sodann die Praxis des Bundesgerichts im Zusammenhang mit Änderungskündigungen. Hier ist sogar eine gewisse Inhaltskontrolle statuiert worden. Eine Kündigung ist missbräuchlich, wenn für die Änderung, sprich Verschlechterung der Lohn- und Arbeitsbedingungen kein sachlich schutzwürdiger Grund besteht.
Insgesamt bietet sich dem arbeitsrechtlich Versierten dann, wenn eine Kündigung dem Gerechtigkeitsgefühl widerspricht, eine Palette von Möglichkeiten, einen Missbrauchstatbestand geltend zu machen. Die Probleme in der Praxis liegen inzwischen weniger beim Grundsatz des Missbrauchstatbestands als vielmehr bei der ungenügenden Sanktion. Diese Problematik aber liegt beim Gesetz und am Gesetzgeber.
So kreativ die Rechtsprechung bei den Tatbeständen der missbräuchlichen Kündigung war, so bedenklich ist das Versagen der Gerichte ausgerechnet beim Schutz gewerkschaftlich Engagierter und insbesondere bei den gewählten Arbeitnehmervertretungen im Betrieb und der Pensionskasse. Hier wollte das Gesetz die gewählten Vertretungen während der Amtsdauer besonders schützen, indem eine Kündigung nur ausnahmsweise zulässig ist (Art. 336 Abs. 2 lit. b OR). Diese Schutzwirkung ist vom Bundesgericht regelrecht ausgehöhlt worden, indem eine Kündigung auch aus wirtschaftlichen Gründen ohne weiteres als zulässig bezeichnet worden ist. Wie aber soll die Arbeitnehmervertretung die Interessen der Belegschaft zum Beispiel bei Massenentlassungen wirksam wahrnehmen, wenn der Arbeitgeber den Präsidenten der Betriebskommission wie im Fall Tamedia geschehen einfach entlassen und damit kaltstellen kann? Wie weit sich das Bundesgericht in diesen Konstellationen vom Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung entfernt hat, zeigt seine Argumentation, dass es nicht angehen können, die Arbeitnehmervertreter bei wirtschaftlich begründeten Entlassungen zu «privilegieren». Mit dieser Umdeutung des gesetzlichen Schutzes der Personalvertretung in ein ungerechtfertigtes quasi-feudales «Privileg» verkennt das Gericht die Grundsätze des Koalitionsrechts fundamental.
Das Versagen der Rechtsprechung in diesen Fällen ist umso krasser, als auch die Sanktionen bei gewerkschaftsfeindlichen Kündigungen absolut ungenügend und nicht geeignet sind, einen wirksamen Schutz zu gewährleisten. Betroffen sind mit der Koalitionsfreiheit Grundrechte, die zudem durch die von der Schweiz ratifizierten Konventionen geschützt sind. Seit der Klage des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds bei den Organen des Internationalen Arbeitsorganisation steht fest, dass die Schweiz hier die Grundrechte im Sinne der Core Labour Standards verletzt, das heisst den harten Kern der Arbeitsrechte, die von allen Ländern unabhängig der Ratifikation der Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation zu gewährleisten sind. Die Schweiz als Sitzstaat der ILO hat diese Konventionen auch formell ratifiziert. Umso stossender ist die anhaltende Rechtsverweigerung in einem Bereich, der die Basis der vielbeschworenen Sozialpartnerschaft ist. Gewerkschaftsrechte sind Menschenrechte.
Der Bundesrat selbst hat vor Jahren eingesehen, dass die maximale Entschädigungshöhe bei missbräuchlichen Kündigungen mit sechs Monatslöhnen absolut ungenügend ist. Seinen Vorschlag der Erweiterung auf zwölf Monatslöhne hat er nach starkem Widerstand der Arbeitgeberseite in der Vernehmlassung aber wieder fallengelassen. Vom Tisch ist diese Frage damit nicht.
Das Beispiel der Mitglieder von Betriebskommissionen zeigt auch, dass eine finanzielle Sanktion, und erst recht eine bescheidene, in diesen Fällen nicht genügt. Die fehlende Wirksamkeit des Kündigungsschutzes beeinträchtigt die Funktion in ihrem Kern, wenn das wirtschaftlich mächtigere Unternehmen bzw. deren Leitung die Gegenseite bei anspruchsvollen Verhandlungen über einen Sozialplan oder die Erhaltung von Arbeitsplätzen einfach quasi «enthaupten» kann. Das Beispiel Tamedia lässt grüssen.
Wenn der Bestandesschutz des Arbeitsverhältnisses heute oft tabuisiert wird, wird vergessen, dass die Nichtigkeit der Kündigung während einer Sperrfrist schon im heutigen Recht nichts anderes als einen Bestandesschutz gewährleistet. Was spricht gegen einen solchen Bestandesschutz über die bewährte Institution der Sperrfrist auch während des laufenden Mandats eines Betriebskommissionsmitglieds? Sicher nicht die Wirksamkeit der Massnahme zum Schutz der Koalitionsfreiheit. Und schon gar nicht die Logik im System des Kündigungsschutzes im 10. Titel des heutigen Obligationenrechts. Falls kein Grund für eine fristlose Auflösung des Arbeitsverhältnisses vorliegt, wäre die Sperrfrist eine so einfache wie wirksame Lösung des offenkundigen Problems.
Darüber hinaus ist daran zu erinnern, dass das 1996 in Kraft getretene Gleichstellungsgesetz das Institut der Anfechtbarkeit der Kündigung kennt, wenn diese als Reaktion auf eine Beschwerde wegen Diskriminierung ausgesprochen wurde. Die Anfechtung der Kündigung kann auch zur Anordnung der Wiedereinstellung durch den Richter führen (Art. 10 GlG). Die Anfechtbarkeit der Kündigung ist auch im Mietrecht eine bewährte Institution. Das Beispiel des Gleichstellungsgesetzes zeigt wie die Erfahrungen im Mietrecht, dass die Anfechtbarkeit der Kündigung im Arbeitsrecht vorurteilsfrei erneut zum Thema werden sollte, so wie es schon die CNG-Initiative für krasse Fälle bzw. für Fälle, in denen Grundrechte verletzt werden, gefordert hatte.
Werfen wir noch einen Blick auf die Zukunft bzw. darauf, wie sich die Dinge entwickeln könnten. Nicht weil bei diesem anspruchsvollen Thema etwas vorhersehbar wäre. Sondern weil noch jedem Fortschritt Ideen und Vorstellungen darüber, was gerecht und was nötig wäre, vorausgegangen sind.
Wie schon in der Vergangenheit hat beim unterentwickelten Kündigungsschutz die Rechtsprechung ein immer wieder unterschätztes Potenzial. Noch immer tun sich viele mit der Drittwirkung der Grundrechte schwer, wie die Rechtsprechung überhaupt mit der Anwendbarkeit der einschlägigen internationalen Konventionen im Arbeitsrecht. Würde aber die Grundrechtsdimension des Arbeitsverhältnisses in der Praxis in Zukunft konsequent mitgedacht, könnten sich plötzlich neue Möglichkeiten eröffnen, die heute noch für viele ausserhalb des Vorstellungsvermögens liegen. Der krasse Fall des Betriebskommissionspräsidenten von Tamedia hätte sich nicht zwingend so negativ entwickeln müssen, wenn er konsequent auf die für die Schweiz massgebenden internationalen Konventionen statt nur auf die schwachen Schweizer Normen im OR abgestützt worden wäre.
Im Migrationsrecht, innerstaatlich bekanntlich ein noch schwierigeres Feld, ist eine wirksame Interessenwahrung heute ohne Blick auf die EMRK, und vor allem auf die dynamische Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK, oft nicht möglich. Im Arbeitsrecht ist diese Dimension immer noch unterentwickelt. Am Potenzial der international garantierten Menschenrechte liegt das nicht. Warum wird das, was zum Beispiel beim Gesundheitsschutz im Asbestfall gelungen ist, nicht auch im Bereich des Kündigungsschutzes fruchtbar gemacht?
Interessant sind in diesem Kontext in den letzten Jahren auch die Fälle Urwyler und Motarjemi. In diesen Fällen haben krasse Rechtsverstösse im einen Fall des Berner Inselspitals und im anderen Fall des Weltkonzerns Nestlé zu finanziellen Konsequenzen und Entschädigungen geführt, die in neue und in der Schweiz bisher nicht gekannte Dimensionen vorgestossen sind.
Für Durchbrüche in der Rechtsprechung braucht es allerdings ein neues Bewusstsein und die Kreativität von arbeitsrechtlich sensibilisierten Anwältinnen und Anwälten, aber auch der Rechtsabteilungen von Gewerkschaften. Die Dinge kommen erst ins Rollen, wenn Forderungen zum Thema werden. Gerichte können erst urteilen, wenn ihnen Fälle unterbreitet werden. Hier ist im Arbeitsrecht ein weites Feld offen.
Für Entwicklungen in der Gesetzgebung braucht es, wie die Erfahrung lehrt, geeignete politische Zyklen und Opportunitäten. Diese sind schwer vorhersehbar, erst recht bei Berücksichtigung des für soziale Anliegen ungünstigen und tückischen politischen Terrains in Bundesbern. Dieses war früher allerdings auch nicht wirklich besser. Nirgends steht geschrieben, dass sozialpolitische Fortschritte zwar bei den Sozialversicherungen, nicht aber auf dem primären Feld der Arbeitsbeziehungen im Arbeitsrecht möglich sein sollen.
Im Auge behalten werden muss auch auf diesem Feld das Verhältnis zur EU. Wenn es auch in den letzten Jahren vorrangig darum ging, das Niveau des Schutzes der Löhne abzusichern, so ist doch auffällig, dass die EU-Rechtsentwicklung wieder in Bewegung geraten ist. Was den Kündigungsschutz betrifft, so ist die Richtlinie 2019/1152 vom 20. Juni 2019 über transparente und vorhersehbare Arbeitsbedingungen interessant, verlangt sie doch im Hinblick auf die Rechte dieser Richtlinie einen Kündigungsschutz und wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen. Davon kann im Schweizer Recht keine Rede sein. Ein bisher kaum rezipierter aktueller Bericht des Bundesrats vom 4. September 2024 über den Vergleich des Arbeitnehmerschutzes im europäischen Vergleich ist reichlich blauäugig, wenn er über das unterschiedliche Schutzniveau auf diesem Feld mit der Behauptung, das Schutzniveau sei im Wesentlichen gleichwertig, grosszügig hinweggeht. Gleiches wäre von der Richtlinie 2022/2041 über angemessene Mindestlöhne zu sagen.
Insgesamt ist das in den wesentlichen Grundzügen aus dem 20. Jahrhundert stammende Schweizer Arbeitsrecht inzwischen wieder auf verschiedenen Gebieten modernisierungsbedürftig geworden. Der Ferienanspruch von minimal vier Wochen seit 1984, auch das war damals ein Gegenvorschlag auf eine Initiative des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds, ist von der Praxis und den Bedürfnissen in den letzten 40 Jahren weit überholt worden. Für zu viele in schwach organisierten Branchen sind die vier Wochen aber heute noch massgebend. Auch Institutionen wie das Konkurrenzverbot in seiner heutigen Ausgestaltung sind eine Schikane und antiquiert. Der vor allem hinsichtlich der Sanktionen zu schwache gesetzliche Kündigungsschutz steht unter den modernisierungsbedürftigen Feldern des Arbeitsrechts nicht allein, ist aber ein besonders akuter Mangel.
Bei der überragenden wirtschaftlichen und sozialen Bedeutung des Arbeitsvertrags muss deshalb wieder darüber nachgedacht werden, wie in Zukunft wieder arbeitsrechtliche Fortschritte erreicht werden können. Zu lange stand jetzt die über alles gesehen durchaus erfolgreiche Abwehr von Verschlechterungen des arbeitsgesetzlichen Schutzes oder von Täuschungsmanövern wie der von Plattformbetreibern wie Uber propagierten Einführung eines überflüssigen dritten Status zwischen Unselbständigkeit und Selbständigkeit im Vordergrund.
Ein wirksamer Kündigungsschutz muss die Fairnessregeln im Arbeitsverhältnis für die Schweiz im 21. Jahrhundert abbilden. Es ist Zeit, dafür im Arbeitsrecht ein neues Kapitel aufzuschlagen.
29. Dezember 2024
Blog
Kündigungsschutz – Erfahrungen der letzten Jahrzehnte in einem schwierigen Dossier
Fachbeitrag zur Jurist:innentagung des SGB zum Schweizer Arbeitsrecht am 2. Dezember 2024 in Bern.