Es ist unbestritten, dass Bundesgesetze verfassungsmässig sein müssen. Das ist aber nicht die Frage, die sich bei der Abschaffung von Art. 190 unserer heutigen Verfassung und der Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit auch gegenüber Bundesgesetzen stellt. Die Frage ist, wer für die Beantwortung der Frage, ob ein Bundesgesetz verfassungsmässig ist, zuständig ist. Nach der heutigen Ordnung ist es der Gesetzgeber, sprich das Parlament, und falls es zum Referendum kommt, das Volk. Neu läge die Entscheidung darüber im Streitfall nicht mehr beim Parlament, sondern beim Bundesgericht.
Wir haben zu dieser Frage 2012, vor 10 Jahren, eine substanzielle Debatte geführt und die Verfassungsgerichtsbarkeit abgelehnt. Ständeratskollege Stefan Engler stand damals auf der Seite der Mehrheit. Heute, nach dem Volksentscheid zur Vorlage «Ehe für alle» hat er seine Haltung geändert.
Aber gibt es wirklich Gründe, den Entscheid in einer so wichtigen gesellschaftspolitischen Frage wie der Definition der Ehe letztlich dem Bundesgericht zu übertragen? Diese Frage stellt sich ähnlich bei der heiklen Konstellation des straflosen Schwangerschaftsabbruchs, wo wir in den USA derzeit beobachten können, wie problematisch es ist, dem Verfassungsgericht, dem Supreme Court, die Letztentscheidung zu übertragen, statt dem Gesetzgeber, und, wenn es zum Referendum kommt, dem Volk. Dasselbe gilt beispielsweise auch für die eben gerade via Gesetzgebung und Referendum entschiedene Frage, ob bei der Organspende die Widerspruchslösung zulässig ist oder nicht.
Wie schon 2012 und 1999 beim Entscheid über unsere neue Bundesverfassung ersuche ich Sie dringend, bei unserer bewährten institutionellen Ordnung zu bleiben und Art. 190 BV zu bestätigen.
Kurz zusammengefasst nochmals die Gründe für die Ablehnung der Verfassungsgerichtsbarkeit:
- Wir haben heute gegenüber Bundesgesetzen zwar keine Verfassungsgerichtsgerichtsbarkeit, aber dafür eine Menschenrechtsgerichtsbarkeit. Art. 190 BV ist so modernisiert worden, dass die transnational verankerten Menschenrechte den Bundesgesetzen vorgehen und für das Bundesgericht verbindlich sind. Die sogenannte Selbstbestimmungsinitiative der SVP hat diesen Vorbehalt der Menschenrechte angegriffen und beseitigen wollen. Die Schweizer Stimmbevölkerung hat das Ende 2018 mit einem Zweidrittelmehr und den Stimmen aller Kantone abgelehnt und die heutige Ordnung und den Vorrang der Menschenrechte eindrücklich bestätigt. Das ist keine Selbstverständlichkeit, wenn wir sehen, wie Russland, aber erschreckenderweise in jüngerer Zeit auch das Vereinigte Königreich, die Europäische Menschenrechtskonvention EMRK nicht mehr einhalten wollen.
- Die Schweiz ist die zweitälteste Demokratie der Welt. Beim Zweikammersystem haben sich die Gründerväter der Schweiz 1848, in der «Stunde Null», am amerikanischen Beispiel orientiert. Einen gegenteiligen Entscheid haben sie bei der Stellung des Bundesgerichts getroffen. In den USA steht das Verfassungsgericht über dem Gesetzgeber, mit dem Ergebnis, dass der Supreme Court das politischste Gericht der Welt ist. In der Schweiz sind Bundesgesetze für das Bundesgericht bindend. Das Korrektiv für den Gesetzgeber sind in der Schweiz die Volksrechte. Mit dem Vorrang des Gesetzes und der Demokratie hat sich in der Schweiz das republikanische gegenüber dem liberalen Prinzip durchgesetzt: das Parlament als Motor des Fortschritts. Der Inhalt der Gesetze soll politisch und nicht richterlich bestimmt werden.
Es hat deshalb gute Gründe, wenn die Wirtschaftsfreiheit und die Eigentumsgarantie als gewöhnliche Verfassungsrechte in unserer institutionellen Ordnung nicht den gleichen Stellenwert haben wie die klassischen ideellen Menschenrechte. Die zentralen wirtschafts- und sozialpolitischen Entscheide sollen via Gesetz politisch und nicht richterlich getroffen werden. Ein akutes Beispiel dafür ist die Ausgestaltung und der Stellenwert des Service Public. Die Schweiz funktioniert hier anders als die EU mit dem EuGH. - Bisher wurde ein einziges Mal eine Volksinitiative für die Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber Bundesgesetzen eingereicht: Die Initiative der «Ligue suisse contre l’étatisme et pour la liberté commerciale» in den Dreissigerjahren des letzten Jahrhunderts. Die Initiative war gegen die wirtschafts- und sozialpolitischen Gesetze des aufkommenden Leistungsstaats in der Wirtschaftskrise gerichtet und wollte diese Gesetzgebung durch das Bundesgericht zurückbinden, analog zu den Entscheiden des amerikanischen Supreme Court gegen den New Deal von Franklin D. Roosevelt. In der Volksabstimmung erreichte die Initiative aber nicht einmal 30 Prozent der Stimmen.
Ich fasse zusammen. Art. 190 unserer Bundesverfassung ist auch heute auf der Höhe der Zeit. Er garantiert bei wirtschafts-, sozial- und gesellschaftspolitischen Fragen die Priorität der Gesetzgebung und der Volksrechte, das heisst der Politik. Gleichzeitig ist er mit dem Vorrang der transnational garantierten Menschenrechte auch im internationalen Vergleich wegweisend. Ich muss Sie somit einladen, auch die neuen Vorstösse für eine Verfassungsgerichtsbarkeit abzulehnen.