(Rede an der Vernissage am 6. April 2024)
Dass die Ausstellung des Deutschen Architekturmuseums über Protestarchitektur Station in der Ostschweiz macht, ist keine Selbstverständlichkeit. Das Team Zeughaus Teufen verdient Dank dafür, dass es das möglich gemacht hat.
Und wohl kein Zufall ist es, dass die Ausstellung mit dem Widerstand gegen den Waffenplatz Neuchlen-Anschwilen aktualisiert wird, ein Bewegungsereignis, das sich wenige Kilometer von hier abgespielt hatte. Die Bewegung gegen den Waffenplatz hatte die Öffentlichkeit seinerzeit stark aufgewühlt und polarisiert.
Der Widerstand im Gelände materialisierte sich im Protestcamp, das dadurch zu einem Stück Protestarchitektur wurde. Protestarchitektur mag provisorisch, vorübergehend, passager sein. Ins Gedächtnis brennt sie sich aber oft stärker ein als die stationären Bauten, gegen die sie errichtet wurden. Das ist nur scheinbar paradox. Ereignisse, Bilder, die mit starken Emotionen verbunden sind, prägen sich dem Gedächtnis besonders tief ein.
Die Bewegung gegen den Waffenplatz Neuchlen-Anschwilen mit ihrem Schwerpunkt 1990 ist eigentlich noch jüngste Zeitgeschichte. Die Erinnerung daran führt aber zu einer kleinen Zeitreise, so sehr hat sich die Welt seither verändert. Nicht zum Guten. Standen damals die Zeichen auf Aufbruch, auf Öffnung, ist das heute nicht mehr so, weltweit nicht und in Europa nicht.
Begründet wurde der neue Waffenplatz in der landwirtschaftlich genutzten Moränenlandschaft oberhalb von Gossau mit dem Ersatz der Kaserne St.Gallen. Diese war allerdings schon Jahre vorher im Zusammenhang mit dem Autobahnbau abgebrochen worden, ohne dass die Armee deshalb Platznot gehabt hätte.
Zum Kontext muss man wissen, dass sogar die Armeespitze damals einräumte, dass die Armee weit überdimensioniert war. Hatte der Mannschaftsbestand in den 1960er Jahren noch 880'000 betragen, weit mehr als jemals zuvor in der Geschichte, so war es Ende der 1980er Jahre ein offenes Geheimnis, dass die Bestände von 600'000 auf 400'000 gesenkt werden müssten. Wenige Jahre später wurde der Sollbestand auf 200'000 reduziert und mit der sogenannten Weiterentwicklung der Armee dann noch auf 100'000. Eine stark schrumpfende Armee war eine schlechte Begründung für einen neuen Waffenplatz. Unabhängig von den landschaftsschützerischen Argumenten gegen das Armeeprojekt.
Dass der Widerstand gegen das Neubauprojekt in Neuchlen-Anschwilen mit der Gründung der ARNA, der «Aktionsgruppe zur Rettung von Neuchlen-Anschwilen» in Gossau, im Jahre 1989 Fahrt aufnahm, hatte allerdings auch noch weitere Gründe. Erster Höhepunkt des Protests war das Mahnfeuer auf Neuchlen-Anschwilen vom 26. Dezember 1989 mit Hunderten von Beteiligten. Mit dem Mahnfeuer nahm die ARNA ein starkes Symbol der Protestbewegung gegen den Waffenplatz Rothenturm auf.
Wenige Wochen vor dem Mahnfeuer, am 9. November 1989, war die Berliner Mauer gefallen. Das war das Ende des Kalten Kriegs, der ausgerechnet in der Schweiz mit besonderer Schärfe ausgetragen worden war, mit der systematischen Verdächtigung kritischer Stimmen als innere Feinde und der Registrierung und Fichierung Hunderttausender durch die Politische Polizei. Die Schweiz begann sich zu lockern, auch wenn sich die bürgerliche Schweiz mit Händen und Füssen dagegen wehrte. Höhepunkt des Abwehrkampfs der bürgerlichen Schweiz war die sogenannte «Diamant-Feier» vom 1. September 1989. Das Eidgenössische Militärdepartement mit Bundesrat Villiger an der Spitze mobilisierte zum 50. Jahrestag der Mobilmachung die Aktivdienstgeneration. Die Schweiz wurde damit zum einzigen Land, das mit der Mobilmachung das Datum des Kriegsausbruchs feierlich beging. Nur am Rande: Das Kriegsende am 8. Mai 1945, also die Befreiung Europas von der Nazi-Herrschaft, ist in der Schweiz bis heute kein Datum der Erinnerung.
Zurück zu Neuchlen-Anschwilen: Direkter Vorläufer des Widerstands war die erfolgreiche Opposition gegen den geplanten neuen Waffenplatz auf der Hochebene von Rothenturm. Auch diese Opposition hatte Formen des direkten Widerstands vor Ort mit der Lancierung einer Volksinitiative verbunden. Mit der überraschenden Annahme der Volksinitiative in der Volksabstimmung war es dieser Bewegung Ende 1987 gelungen, einen neuen Waffenplatz auf der Hochebene von Rothenturm zu verhindern und gleichzeitig den Schutz der Moore in der Verfassung zu verankern. Mit positiven Folgen weit über Rothenturm hinaus bis heute – Stichwort Moorschutz. Der Widerstand gegen den Waffenplatz Rothenturm hatte allerdings viel früher eingesetzt und konnte zudem auf die Unterstützung der betroffenen Gemeinde zählen, was bei Neuchlen-Anschwilen nicht der Fall war.
Hier wurde der Bau trotz immer stärker werdender Opposition und Grossdemonstrationen durchgedrückt und beschleunigt. Weder auf hängige Anträge im Parlament noch auf die Vorbereitung einer Volksinitiative wurde Rücksicht genommen. Das war die Geburtsstunde des Protestcamps im Wald neben dem geplanten Waffenplatz.
Die Aktionen auf dem Baugelände selber begannen mit dem Baubeginn am 5. April 1990. Der Widerstand war kreativ, vielfältig und strikt auf Gewaltfreiheit verpflichtet: GONA hiess «Gewaltfreie Opposition Neuchlen-Anschwilen». Ab sofort war das vorher unbekannte Neuchlen-Anschwilen schweizweit ein Begriff. Das Camp hatte mehr als zwei Monate Bestand bis zur gewaltsamen Räumung durch Polizeigrenadiere im Juni.
Hunderte, wenn nicht Tausende aus der halben Schweiz beteiligten sich an den Aktionen, auch wenn eine Mehrheit der Aktiven aus der Ostschweiz stammte. Der Protest warf national Wellen und sorgte für rote Köpfe im Bundeshaus. Die Demonstrationen in dieser Zeit zählten zu den grössten der Ostschweiz der letzten Jahrzehnte.
Die im Juni 1990 lancierte Volksinitiative «40 Waffenplätze sind genug – Umweltschutz auch beim Militär» kam in wenigen Monaten zustande. Mehr als 30'000 der insgesamt 120’000 Unterschriften stammten aus den Ostschweizer Kantonen und insbesondere aus dem Kanton St.Gallen.
Bis zur Abstimmung über die Initiative dauerte es zweieinhalb Jahre und der neue Waffenplatz war zu diesem Zeitpunkt weitgehend gebaut. Zudem hatten die Bundesbehörden als Antwort auf die Initiative die Armee auf einen schonenderen Umgang mit der Umwelt verpflichtet und versprochen, nach Neuchlen-Anschwilen keine weiteren Waffenplätze mehr zu bauen. Selbst die Begrenzung auf maximal 40 Waffenplätze wurde durch die Aufhebung einer älteren Einrichtung übernommen. Trotzdem erreichte die Initiative 44.7% Ja-Stimmen, ein weit überdurchschnittliches Resultat. Vieles spricht dafür, dass die Initiative trotz der Beschwichtigungsversuche und trotz der Verzögerungen durchgekommen wäre, hätten die PR-Strategen im Militärdepartement nicht die Volksabstimmung mit jener über neue Kampfflugzeuge zusammengelegt und sie rhetorisch zu einer Grundsatzabstimmung über Sein oder Nichtsein der Armee hochstilisiert. So wurde Neuchlen-Anschwilen zum umweltfreundlichsten und mit vielen Biotopen durchsetzten Waffenplatz. Verhindert werden konnte er nicht mehr.
Gegen Hunderte von Aktivistinnen und Aktivisten waren Strafverfahren eröffnet worden. In vielen Fällen wurden sie mangels Nachweises eines Tatbestandes wieder eingestellt. Für die Verbleibenden kam es zu einem spektakulären Pilotprozess gegen zwölf Beteiligte vor dem Bezirksgericht Gossau. Der medial stark begleitete Prozess endete mit symbolischen Bussen. Das Gericht billigte den Betroffenen achtenswerte Beweggründe im Sinne des Strafgesetzbuches zu und stellte sich damit gegen die Strafverfolgungsbehörden, die eine harte Repressionspolitik verfolgt hatten.
Was bleibt? Zunächst ein Politisierungsschub für Tausende, wenn nicht Zehntausende meist junger Menschen mit nachhaltigen Folgen. Demokratie heisst Beteiligung und Einmischung der Betroffenen und beschränkt sich nicht auf die Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen. Eine lebendige Demokratie lebt von Menschen, die sich engagieren, die ihren eigenen Kopf brauchen und sich nicht einfach unterordnen.
Viele Fragen rund um die Armee stellen sich heute anders als vor 30 Jahren. Sie hat sich auch stark gewandelt. Fest steht, dass der Widerstand gegen den Waffenplatz Neuchlen-Anschwilen das grösste Ostschweizer Bewegungsereignis der letzten Jahrzehnte war.
Damit reiht sich der Widerstand gegen den Waffenplatz Neuchlen-Anschwilen in die grossen Bewegungsereignisse der Ostschweiz ein. Prominente Beispiele dafür waren im 19. Jahrhundert die Bewegung, die mit der Einführung des Vetos zur Erfindung des Referendums geführt hat, oder auch die grosse Volksversammlung von Flawil 1836 zur Verteidigung des Asylrechts.
Die Ostschweiz hat vielleicht den Ruf, eine konservative Region der Schweiz zu sein. Sie ist aber auch zu Überraschungen fähig. Neuchlen-Anschwilen ist ein Beispiel dafür.
Die Ausstellung über Protestarchitektur ist somit nicht nur ein ästhetisches und kulturelles Ereignis. Sie trägt auch ganz konkret bei zur Erinnerung an Protestbewegungen als Teil einer lebendigen Demokratie.
Herzlichen Dank dafür!