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9. Juni 2015

Blog

Es ist Zeit, die AHV wieder zu stärken

Die AHV ist das Herz des Schweizer Sozialstaats. Warum eine Rentenerhöhung nötig ist und wie sie sich finanzieren lässt.


Der Mischindex in der AHV ist im Jahre 1980 eingeführt worden, also vor 35 Jahren. Der Mischindex verlangt, dass die Renten je zur Hälfte an die Entwicklung der Preise und der Löhne angepasst werden. Für die Rentnerinnen und Rentner ist das eine gute Sache und eine grosse Errungenschaft. Im Gegensatz zu den Pensionskassen ist bei der AHV der Teuerungsausgleich garantiert. Schwieriger sind die Auswirkungen des Mischindexes für die künftigen Rentnerinnen und Rentner. Weil ihre Löhne für die Rentenberechnung mit dem Mischindex aufgewertet werden, verlieren die Rentenansprüche der Erwerbstätigen gemessen an den Löhnen schleichend an Wert. Das ist der Effekt der sogenannten kalten Degression. Der Rückstand auf die Lohnentwicklung beträgt seit 1980 bereits 10 Prozent. Deshalb ist heute wieder eine reale Anpassung der Renten nötig. So wie die kalte Progression bei den Steuern periodisch ausgeglichen werden muss, braucht es auch bei den Renten für den Ausgleich der kalten Degression wieder eine Rentenerhöhung.

Verfassungsauftrag nicht erfüllt

Das verlangt sinngemäss auch die Bundesverfassung. Denn die Verfassung sagt, dass die Leute im Rentenalter von den Renten der AHV und der Pensionskasse anständig leben können sollen: «Fortsetzung des gewohnten Lebens in angemessener Weise» heisst das in der Sprache der Verfassung. Mit dem langsamen, aber stetigen Absinken der Ersatzquote der AHV ist der Verfassungsauftrag nicht mehr erfüllt.

Längere Zeit haben die Leute davon nicht viel gemerkt, weil die Renten der Pensionskassen immer besser geworden sind. Damit ist es aber seit längerem vorbei. Der Druck auf die Renten der Pensionskassen ist enorm. Landauf landab verschlechtern sich die Renten der künftigen Rentnerinnen und Rentner. Dies obwohl an vielen Orten hohe Sanierungsbeiträge bezahlt werden müssen. Aber auch die Pensionskassenrenten der heutigen Rentner entwerten sich mit der Zeit. Die zweite Säule kennt ja im Gegensatz zur AHV keinen garantierten Teuerungsausgleich.

Die Verfassung, aber auch die soziale Realität verlangt deshalb wieder Rentenverbesserung. Das kann bei der heutigen Lage der Kapitalmärkte nur die mit dem Umlageverfahren finanzierte AHV leisten. Die AHV ist die erste und für die Mehrheit der Bevölkerung die zentrale Säule der Altersvorsorge. Allen voran für die Frauen.

Unschlagbares Preis-Leistungsverhältnis

Eine Rentenverbesserung ist natürlich nicht gratis. Das gilt für die AHV genauso wie bei den Pensionskassen. Der Unterschied liegt darin, dass bei der AHV das Preis-Leistungs-Verhältnis für die grosse Mehrheit der Bevölkerung mit unteren und mittleren Einkommen viel besser ist als bei den Pensionskassen. Und erst recht gegenüber privaten Versicherungen. Bis zu einem Einkommen von 150‘000 Franken ist die AHV im Verhältnis von Beiträgen und Renten gegenüber Pensionskassen hoch rentabel. Gegenüber den privaten Versicherungen gilt das für Einkommen von weit über 200‘000 Franken.

AHVplus bringt den Ehepaaren monatliche Rentenverbesserungen von rund 350 Franken. Pro Jahr macht das über 4‘000 Franken aus. Bei den Alleinstehenden sind es rund 200 Franken pro Monat. Oder gegen 2‘500 Franken pro Jahr. Die Kosten für diese Rentenverbesserungen betragen weniger als 4 Lohnpromille für die Arbeitnehmer und 4 Lohnpromille für die Arbeitgeber. Dieses Preis-Leistungs-Verhältnis von Rentenverbesserungen bei der AHV ist unschlagbar.

Aber können wir uns eine Rentenverbesserung mit Blick auf die Finanzen der AHV überhaupt leisten? Auch hier gilt zunächst die Feststellung, dass bessere Renten natürlich zusätzliche Kosten verursachen, die finanziert werden müssen. Aber gleichzeitig steht fest, dass die AHV ausserordentlich solid finanziert ist. Auch gegenüber den Herausforderungen der Demografie. Die AHV war wie keine andere Versicherung in der Lage, die Zunahme der Lebenserwartung und die Zunahme der Zahl der Rentnerinnen und Rentner zu finanzieren.

Schauen wir die Entwicklung seit 1975 an. Die Zahl der Rentnerinnen und Rentner hat sich in diesen vierzig Jahren seit 1975 von 900‘000 auf über 2 Millionen erhöht, also mehr als verdoppelt. Trotzdem bezahlen wir heute bei der AHV nicht mehr Lohnprozente als 1975: 4.2 Prozent Arbeitnehmerbeitrag und 4.2 Prozent Arbeitgeberbeitrag, zusammen 8.4 Prozent. Ein einziges Mal in diesen vierzig Jahren brauchte es ein zusätzliches Mehrwertsteuerprozent, nämlich in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. Und wenn in den nächsten zehn Jahren wieder ein Mehrwertsteuerprozent fällig wird, dann ist das bei der AHV äusserst gut angelegt.

Was ist der Grund für diese enorme Leistungsfähigkeit der AHV-Finanzierung? Das Rezept ist so einfach wie schlagend. Die Beitragspflicht bei der AHV ist gegen oben unbeschränkt. Auch die hohen und höchsten Erwerbseinkommen und auch Millionenboni sind voll beitragspflichtig. Die Renten aber sind plafoniert. Auch der Millionär bekommt keine höhere Rente als jemand, der ein mittleres Einkommen bezieht. Dieses einfache, aber hoch wirksame Prinzip finanziert die AHV. Die Beitragsbasis ist sehr breit. Die wirtschaftliche Entwicklung finanziert die AHV.

Tabuisierte Lohnbeiträge

Die Lohnbeiträge an die AHV werden deshalb zu Unrecht tabuisiert. Für ein realistisches Bild braucht es einen Vergleich mit den Lohnbeiträgen für andere Versicherungen. Ins Auge stechen dabei die Beiträge für die berufliche Vorsorge. Diese wurden im Laufe der letzten 30 Jahren stark erhöht. Inzwischen machen sie über 18 Prozent aus. Sie betragen also mehr als das Doppelte der Beiträge an die AHV. Und das ohne Berücksichtigung der zusätzlichen Beiträge, die gemäss der bundesrätlichen Vorlage zum Projekt «Altersvorsorge 2020» für die berufliche Vorsorge neu vorgesehen sind. Und das für bescheidene und erst in Jahrzehnten anfallende Renten. Bei der AHV sind zusätzliche Beiträge viel rentenwirksamer.

Kurz zu ein paar Einwänden gegen AHVplus. Wenn etwa gesagt wird, dass in der Altersvorsorge besser die Ergänzungsleistungen verstärkt würden, dann sind ein paar grundlegende Dinge nicht oder zu wenig verstanden worden. Die Ergänzungsleistungen sind gewiss eine segensreiche Einrichtung, die wir gegen alle Angriffe verteidigen müssen. Das gilt vor allem für die Funktion der Ergänzungsleistungen als Pflegeversicherung. Auch bei gebrochenen Erwerbskarrieren z.B. wegen langer Arbeitslosigkeit spielen die Ergänzungsleistungen eine wichtige Rolle. Wer aber normal gearbeitet hat, der muss von der Rente der AHV und der Pensionskasse anständig leben können, ohne noch auf Ergänzungsleistungen angewiesen zu sein. So will es unsere Verfassung. Und so wollen es auch die Menschen in unserem Land. Deshalb muss die AHV wieder gestärkt werden.

In letzter Zeit ist öfter auch wieder der Einwand zu hören, dass die Leute mit hohem Einkommen die AHV und erst recht eine Rentenverbesserung bei der AHV nicht brauchen würden. Auch diesem grundlegenden Missverständnis kann man nur den Satz von Bundesrat Tschudi entgegen halten: Die Reichen brauchen die AHV nicht. Aber die AHV braucht die Reichen. Die Renten und die Rentenverbesserungen für die hohen Einkommen sind für die AHV eine gute, eine rentable Sache. Die Rentenansprüche müssen mit der Beitragspflicht zusammengedacht werden.

Herz des Schweizer Sozialstaats

Wir stehen somit vor einer wichtigen Weichenstellung: Lassen wir es zu, dass die AHV-Renten gegenüber der wirtschaftlichen Entwicklung schleichend an Wert verlieren? Oder wollen wir die AHV-Renten wieder stärken, weil es nach 30 Jahren nötig geworden ist?

Die AHV ist eine grossartige Errungenschaft und das Herz des Schweizer Sozialstaats. Sie musste über viele Jahrzehnte hinaus erkämpft werden. Die Einführung einer AHV war zusammen mit dem Frauenstimmrecht die zentrale Forderung des Generalstreiks von 1918. Als sie 1948 endlich eingeführt werden konnte, immerhin lange vor dem Frauenstimmrecht, waren die Bundesräte jeweils stolz, wenn sie die AHV stärken und die Renten verbessern konnten. Das galt nicht nur für Bundesrat Tschudi, sondern auch für die späteren CVP-Bundesräte wie Hürlimann und Egli.

Vor kurzem stiess ich auf die Biografie des freisinnigen Solothurner Bundesrats Walther Stampfli. Stampfli kämpfte als verantwortlicher Bundesrat engagiert für die Einführung der AHV. Gegen die massive Opposition von Vorort und Arbeitgeberverband. Arbeitgeberverband und Vorort – die heutige Economiesuisse - wollten nämlich von Lohnbeiträgen nichts wissen. Das Stimmvolk stimmte der Vorlage aber bei einer sonst nie erreichten Stimmbeteiligung von 84 Prozent mit überwältigender Mehrheit zu. Es war der Sieg des Bundesrats, aber auch jener einer grossen Mehrheit des ursprünglich skeptischen Parlaments. Und, was ich hier anfügen darf, des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds mit dem legendären Abstimmungsplakat des kürzlich verstorbenen Hans Erni.

So weit sind wir heute nicht. Aber es wird Zeit, wieder für eine Stärkung der AHV zu kämpfen. Zu lange ist sie in den letzten 20 Jahren schlecht geredet worden.