Die Schweiz befindet sich in einem Zustand tiefer Verunsicherung. Zwar gehört sie im Weltmassstab zu den wirtschaftlich starken Ländern. Wichtige Teile der Wirtschaft leiden aber seit dem fatalen Entscheid der Nationalbank, den Mindestfrankenkurs aufzuheben, unter der nochmals stärker überbewerteten Währung. Allen voran leiden die Lohnabhängigen. Der Franken dient als Vorwand für eine antisoziale Politik in neuer Schärfe. Grosse Zukunftsfragen unseres Landes bleiben ungeklärt. Statt die Debatte darüber aufzunehmen, wird seit Monaten die Erinnerung an die Schlachten der alten Eidgenossen breitgetreten.
Mit den Wahlen im kommenden Herbst werden die Weichen für die nächsten vier Jahre neu gestellt. Es geht dabei um weit mehr als um Tagespolitik. Ich nehme die Gelegenheit wahr, ein paar Grundsatzfragen anzusprechen.
Militante Fremdenfeindlichkeit
Nicht nur die Schweiz wird vom Gespenst der Fremdenfeindlichkeit geplagt. Nicht nur in der Schweiz werden Menschen mit ausländischem Pass für die Probleme des Landes verantwortlich gemacht. Eine militante Fremdenfeindlichkeit gibt es in vielen Ländern: in Frankreich, in Italien, in Ungarn, in Deutschland (Stichwort AfD), aber auch in aussereuropäischen Staaten, wie die jüngsten Ereignisse in Südafrika zeigen. Das Besondere der Schweiz liegt darin, dass diese Kräfte in der Regierung vertreten sind, wenn auch vorläufig als kleine Minderheit. Und vor allem darin, dass Initiativen wie jene gegen Minarette, die Ausschaffungsinitiative und die Masseneinwanderungsinitiative inzwischen in der Verfassung stehen.
Abgesehen von der Sündenbockpolitik, die auf dem Buckel der Menschen mit ausländischem Pass und der sozial Schwachen betrieben wird: Welche Lösungen schlagen die fremdenfeindlichen Kräfte vor für die konkreten Probleme unseres Landes? Die aggressivsten Aufrufe zum Abbau des Sozialstaats und des Arbeitnehmerschutzes stammen von der SVP. Angriffe auf den Sozialstaat und den Lohnschutz gehen Hand in Hand mit aggressiver Ausländerfeindlichkeit.
Die Politik der fremdenfeindlichen Kräfte spaltet die Gesellschaft. Die Menschen. In der Schweiz. Überall. Was aber hält die Schweiz, die schweizerische Gesellschaft zusammen? Es sind exakt jene Errungenschaften, die jetzt angegriffen werden. Errungenschaften, die nicht spalten und ausgrenzen, sondern integrieren.
Starke Institutionen
Zur Schweiz im Positiven gehören nicht nur unsere Berge und Landschaften, sondern auch die zentralen Institutionen, die dafür sorgen, dass die Schweiz funktioniert. Symbolhaft dafür stehen die SBB, eine starke öffentliche Institution als Basis des öffentlichen Verkehrs in der Schweiz. Die Schweizerischen Bundesbahnen wurden durch einen Volksentscheid von 1898 geschaffen. Mittels Verstaatlichung der Privatbahngesellschaften. In einer Zeit, als sechs von sieben Bundesräten freisinnig waren. Dieser weitsichtige Entscheid stand am Anfang der Erfolgsgeschichte der starken Stellung des öffentlichen Verkehrs in der Schweiz. Zum Nutzen aller.
Entscheidend für den gesellschaftlichen und sozialen Zusammenhalt der Schweiz sind die funktionierenden öffentlichen Einrichtungen. Allem voran der Sozialstaat. Sein Herzstück ist die AHV, eine politische Erfindung mit einer enormen wirtschaftlichen und sozialen Leistungsfähigkeit.
Der Sozialstaat und die Sozialversicherungen werden in den letzten Jahren und Jahrzehnten politisch ständig angegriffen. Es geht nun darum, die elementaren Grundprinzipien wieder in Erinnerung zu rufen.
Die Sozialversicherungen gehören zu den wichtigsten Erfindungen der Neuzeit. Kein Staat, der einen gewissen Entwicklungsstand erreicht hat, kann es sich leisten, darauf zu verzichten. Bevor es Sozialversicherungen gab, waren die Menschen bei den grossen Risiken Alter, Krankheit, Tod und Arbeitslosigkeit vollständig von ihren Angehörigen abhängig. Falls sie welche hatten und falls diese sie unterhalten konnten. Wer keine Angehörige mit finanziellen Mitteln hatte, landete im Armenhaus. Ein unwürdiger Zustand für alle.
In einer entwickelten Wirtschaft und Gesellschaft gibt es keine Alternative zu einer kollektiven Absicherung der grossen Lebensrisiken. Ausser vielleicht für die kleine Minderheit der Superreichen. Eine Sozialversicherung verbindet das Prinzip einer Versicherung, die mathematischen Gesetze grosser Zahlen, mit sozialen Zielsetzungen.
Sozialstaat heisst Freiheit
Deshalb bedeutet ein funktionierender Sozialstaat für die grosse Mehrheit der Bevölkerung Freiheit. Wer arm ist, ist nicht frei. Die soziale Sicherheit ist nicht das Gegenteil von Freiheit, sondern die Voraussetzung dafür.
Die tragenden Prinzipien einer Sozialversicherung sind geradezu exemplarisch in der schweizerischen AHV verwirklicht. Auch im internationalen Vergleich. Die AHV ist die erste und für die Mehrheit der Bevölkerung die tragende Säule der Altersvorsorge.
Aber nicht nur das: Die AHV war auch wie keine andere Versicherung in der Lage, die Zunahme der Lebenserwartung zu finanzieren.
Halten wir uns die Fakten vor Augen: In den letzten 40 Jahren, seit 1975, hat sich die Zahl der Rentnerinnen und Rentner mehr als verdoppelt, von 900‘000 auf über 2 Millionen. In diesen 40 Jahren, seit 1975, sind die Lohnbeiträge an die AHV gleich geblieben. Ein einziges Mal brauchte es in dieser Zeit ein zusätzliches Mehrwertsteuerprozent, vor bald 20 Jahren. Wo gibt es so etwas sonst? Etwa bei den privaten Versicherungen, bei den Pensionskassen, bei den Krankenkassen?
Geniales AHV-Prinzip
Was erklärt diesen Erfolg der AHV? Es ist ein ebenso einfaches wie geniales Prinzip. Die Renten sind für alle ähnlich hoch. Die höchste Rente ist maximal doppelt so hoch wie die niedrigste, und bei 85‘000 Franken Jahreseinkommen hat man den Anspruch auf die Maximalrente erreicht. Aber die Beitragspflicht ist unbeschränkt. Auch wer Millionenverdienste und zusätzlich noch Boni kassiert, muss auf dem ganzen Einkommen AHV-Beiträge bezahlen. Dieses einfache und geniale Prinzip erklärt das Geheimnis der AHV: plafonierte Renten auf der einen Seite und unbeschränkte Beitragspflicht, auch auf den hohen und höchsten Einkommen, auf der anderen. So funktioniert eine gute Sozialversicherung: Das Prinzip der Effizienz verbindet sich mit dem Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit. Und umgekehrt: Das Prinzip der Solidarität erzeugt auch wirtschaftlich eine hohe Wirksamkeit.
Das ist der Grund, weshalb wir uns gegen die Verschlechterung der AHV-Leistungen wehren müssen, wie sie in Bern politisch jetzt wieder betrieben wird. Und wenn es wegen der Demografie gelegentlich ein neues Mehrwertsteuerprozent braucht, ist das bei der AHV gut angelegt. Und weil die Renten schon lange nicht mehr an die wirtschaftliche Entwicklung angepasst worden sind, braucht es wieder einen Zuschlag, Stichwort AHVplus. Renten und Rentenverbesserungen haben bei der AHV für die grosse Mehrheit der Bevölkerung ein hervorragendes Preis-/Leistungsverhältnis. Deshalb ist es das Gebot der Stunde, die AHV zu stärken, statt sie zu schwächen. Erst recht in einer Zeit, in der die Pensionskassen und damit die Pensionskassenrenten unter der Lage an den Kapitalmärkten leiden.
Die AHV ist die grösste innenpolitische Errungenschaft der Schweiz des 20. Jahrhunderts. Die AHV sorgt für ein Stück Gleichheit und Solidarität in Zeiten zunehmender Ungleichheit. Deshalb gilt: An den Auseinandersetzungen um die AHV entscheidet sich die Zukunft der sozialen Schweiz. Oder anders formuliert: Wer die AHV angreift, greift das Modell Schweiz im Besten an.
Bedrohte Bildungschancen
Zum Modell Schweiz im Positiven gehört seit dem Aufbruch in die moderne Schweiz eine starke öffentliche Schule und ein öffentliches Bildungswesen. Als Basis nicht nur des wirtschaftlichen Fortschritts, sondern der demokratischen Gesellschaftsentwicklung überhaupt. Weitblickende Leute wie Johann Heinrich Pestalozzi waren wegweisend dafür. Es ging um die «Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit» im Sinne von Kant.
Es gibt schwer zu denken, dass die Bildungschancen wieder stärker als vor ein paar Jahrzehnten von der sozialen Stellung der Eltern abhängig sind. Ein besonders krasser Fall ist der Kanton St.Gallen. St.Gallen ist bei den Maturitätsquoten auf den letzten Platz unter den Kantonen abgerutscht. Weit hinter den beiden Appenzell. Sogar die NZZ titelte kürzlich: «St.Gallen bildet sich zurück».
Aber auch innerhalb des Kantons gibt es krasse Unterschiede. Die Gemeinde Mörschwil, wo viele Reiche wohnen, liegt weit über dem schweizerischen Schnitt. Zwei von fünf Schülern machen dort die Matura (38%). In der Stadt St.Gallen sind es noch drei von zwanzig, gut 15%. In manchen Rheintaler Gemeinden dann nur noch einer von zwanzig, also 5%. Es kann davon ausgegangen werden, dass wer in Mörschwil geboren wird, genetisch nicht intelligenter ist als ein Stadtsanktgaller oder ein Rheintaler. Entscheidend für diese krassen Unterschiede bei den Maturaquoten ist die soziale Stellung der Eltern.
Wenn das Ziel der Chancengleichheit wieder in die Ferne rückt, ist das für die Zukunft der Schweiz eine schlechte Entwicklung. Wir müssen das ändern, wir müssen in die Bildung investieren. Die junge Generation braucht Perspektiven. Auch junge Menschen, die von unten kommen. Als Sohn eines Hilfsarbeiters und einer Putzfrau, aber aufgewachsen in einer Zeit, als es bildungspolitisch vorwärts ging, weiss ich, wovon ich spreche.
Entscheidende Bilateralen-Abstimmung
Zu den grossen Zukunftsfragen zählt das Verhältnis der Schweiz zu Europa. Absehbar wird es nächstes Jahr zu einer Abstimmung über die Fortsetzung der bilateralen Verträge kommen. Das wird eine entscheidende Abstimmung für die Schweiz – wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch. Denn im Verhältnis zur EU gehen diese bilateralen Verträge dem internen Recht vor, sofern sie nicht gekündigt werden.
Ich möchte hier auf zwei Punkte eingehen, einen innenpolitischen und einen im Verhältnis zur EU. Was die innenpolitische Dimension betrifft, so ist offensichtlich, dass am 9. Februar 2014 die Ängste und Sorgen um Arbeitsplätze und Löhne den Ausschlag gaben. Wer eine kommende Abstimmung gewinnen will, der muss diese Sorgen und Ängste in der Bevölkerung ernst nehmen. Mit konkreten Massnahmen zum Schutz der Löhne und Arbeitsplätze. Und gegen die Diskriminierung älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die Glaubwürdigkeit dieser Massnahmen wird für das Abstimmungsresultat entscheidend sein. Der soziale Schutz bleibt die Basis der Öffnung.
Das genügt aber nicht. Es braucht gerade in der Schweiz eine neue und nicht von Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit geprägte Sicht auf die EU. Das geht nicht ohne einen Blick in die Geschichte. Dass die Schweiz als kleines Land mitten in Europa von zwei Weltkriegen verschont blieb, war nicht einfach ihr eigenes Verdienst. Die Schweizer Demokratie war von Nazi-Deutschland tödlich bedroht. Auch die Schweiz verdankt ihre Freiheit dem Sieg der Alliierten.
Das Europaprojekt aber ist nichts anderes als die westliche Antwort auf die Katastrophen der beiden Weltkriege und insbesondere auf die Verheerungen des Zweiten Weltkriegs. Dass der tödliche Nationalismus in Europa überwunden wurde, daran hat die die Schweiz ein äusserst vitales Interesse. Stellen wir uns vor, wie ein neues Europa der Nationalstaaten aussähe und was das für die Schweiz bedeuten würde. Die Zerfallskriege im nicht weit entfernten Jugoslawien haben gezeigt, welche Gefahren ein virulenter Nationalismus in sich birgt. Und dass Krieg leider auch an den Rändern Europas wieder Realität geworden ist.
Es gibt viele Gründe für eine kritische Haltung zur Wirtschaftspolitik der EU in der gegenwärtigen Form. Die Schweiz hat aber ein vitalstes Interesse daran, dass das EU-Projekt nicht scheitert. Aus Schweizer Sicht verbietet sich jede Selbstgerechtigkeit. Die Schweiz ist ein Teil Europas und mit den EU-Ländern wirtschaftlich so stark verflochten wie wenige der EU-Länder untereinander. Nur am Rande: Churchill hielt seine berühmte und folgenschwere Rede von 1946 «Let’s Europe arise» in Zürich.
Realitäten statt Mythen
Geschichtspolitik ist nie harmlos. Die historische Erinnerung meint nie einfach die Vergangenheit, sondern vor allem die Gegenwart und die Zukunft. Was vermittelt uns die Erinnerung an Marignano 1515? Es ist der Kult der Niederlage, mehr aber noch die Botschaft des Rückzugs. Doch Niederlage und Rückzug änderten damals nichts daran, dass die Patrizier in den alten Orten der Eidgenossenschaft noch während Jahrhunderten mit Soldverträgen quer durch Europa reich wurden. Die Söhne der armen Familien metzelten sich gegenseitig in den Schlachten für die Potentaten Europas nieder. Es waren Hunderttausende.
Es spielt eine Rolle, auf welche geschichtlichen Vorgänge sich ein Land bezieht. Zwischen Mythen und Realitäten sollten wir uns dabei für die Realitäten entscheiden.
Verdrängt wird bei uns häufig die Erinnerung, dass bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nur eine kleine Minderheit auf dem Gebiet der heutigen Schweiz die Freiheitsrechte besass. Grosse Teile der Bevölkerung, vor allem auf dem Land, waren Untertanen. Dies gilt auch für weite Teile der Ostschweiz und des heutigen Kantons St.Gallen.
Es waren die Ideen der Aufklärung, die auch bei uns die Untertanenverhältnisse hinwegfegten. Wegweisend waren die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die Menschenrechtserklärung der französischen Revolution von 1789. Sie proklamierten die Freiheit und Gleichheit der Menschen und die Unveräusserlichkeit ihrer Rechte.
St.Galler Revolutionen
Der heutige Kanton St.Gallen spielte bei der Eroberung neuer Rechte eine grosse Rolle, angefangen von der st.gallischen Revolution im Fürstenland und in Gossau mit Bot Künzle bis hin zu den Revolutionen im Rheintal und im Toggenburg. – Es war die helvetische Republik, die erstmals für die Schweiz die Gleichheit aller Bürger proklamierte. Und gleichzeitig für den Aufbau eines öffentlichen Volkschulwesens sorgte.
Bekanntlich dauerte die mit vielen Mängeln behaftete Helvetik nur fünf Jahre. Bis zu den Mediationsakten. Der Kanton St.Gallen in seiner heutigen Form ist ein Mediationskanton, zusammen mit dem Aargau, dem Thurgau, dem Tessin, Graubünden und der Waadt. – Entscheidend für den Fortgang der Geschichte war aber, dass es die alten Orte der Eidgenossenschaft nach dem Sturz Napoleons am Wiener Kongress von 1815 nicht fertig brachten, die Untertanenverhältnisse wiederherzustellen, obwohl sie es nach Kräften versuchten. Es erging ihnen dabei wie dem Fürstabt von St.Gallen, der seine Herrschaftsgebiete im Kanton St.Gallen auch nicht mehr zurückbekam. Für die neu errungenen Freiheiten der ehemaligen Untertanengebiete in der Schweiz war es ein Glücksfall, dass für den sonst reaktionären Wiener Kongress die Stabilität der Schweiz als neutraler Pufferstaat das zentrale Ziel war.
Die demokratische Schweiz, Labor der Ideen
Die moderne Schweiz beginnt bekanntlich mit dem Bundesstaat von 1848. Die Verfassung von 1848 deklarierte die Rechtsgleichheit wieder an zentraler Stelle und hielt wörtlich fest: «Es gibt in der Schweiz keine Untertanenverhältnisse, keine Vorrechte des Orts, der Geburt, der Familien oder Personen.» Das ist die Grundlage der modernen, demokratischen Schweiz. Ihre Basis sind die Menschenrechtserklärungen von 1776 und 1789. Aber auch die Helvetik, im Rückblick trotz ihrer Mängel ein kreatives Labor der Ideen, als vieles noch nicht gesichert war. Mit der Abschaffung der jahrhundertealten Untertanenverhältnisse begründete die Helvetik den entscheidenden Fortschritt für die Schweiz, der nachher nie mehr rückgängig gemacht werden konnte.
Und um wieder daran zu erinnern: Der machtpolitisch entscheidende Ausgangspunkt für den revolutionären Vorgang, der die Bundesverfassung von 1848 möglich machte, lag im Kanton St.Gallen. Im Linthgebiet. Bei der Landsgemeinde von Schänis vom 2. Mai 1847. Diese Landsgemeinde im katholischen Bezirk Gaster wählte für einmal völlig überraschend fortschrittlich (das heisst «liberal»). Das kippte die vorher unentschiedenen Mehrheitsverhältnisse im Grossen Rat und mit St.Gallen danach das Patt an der Tagsatzung. St.Gallen wurde dadurch zum Schicksalskanton auf dem Weg zur modernen Schweiz. Mit der neuen Mehrheit an der Tagsatzung war das der Startschuss zum Sonderbundskrieg, der den Übergang vom Staatenbund zum Bundesstaat erst möglich machte. Was im Kanton St.Gallen begann, war im kontinentalen Umbruchjahr 1848 die einzige erfolgreiche demokratische Revolution in Europa.
Diese Durchbrüche des Fortschritts sind Vorgänge, an die wir uns erinnern sollten. Sie haben die Schweiz vorwärts gebracht.
Eine Staatsidee der Vielfalt
Die Vorstellung einer schweizerischen Staatsidee wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt. Die Schweiz war mit dem Aufstieg sprachlich, ethnisch und kulturell homogener Nationalstaaten konfrontiert. Sie traten teilweise sehr aggressiv auf. Es stellte sich die Frage, was auf diesem Hintergrund die Schweiz ausmachte. Die Antwort darauf war der Begriff der Willensnation. Sie beruhte darauf, dass die sprachlich und kulturell vielfältige Schweiz durch die gemeinsamen, aber in Europa damals keineswegs selbstverständlichen Werte der Freiheit, der Gleichheit und der Demokratie zusammengehalten werde. Die sprachliche und kulturelle Vielfalt bei gemeinsamen Werten war ein wichtiger Teil dieser Staatsidee.
Diese Staatsidee einer sprachlich, ethnisch und kulturell vielfältigen Schweiz, die durch gemeinsame Werte zusammengehalten wird, hat auf die heutigen Verhältnisse übertragen ein neues Potenzial. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Zusammensetzung unserer Bevölkerung dynamisch verändert. Das ruft nach der Frage, was denn die Schweiz unter heutigen Verhältnissen ausmacht. Ende des 19. Jahrhunderts war die Schweiz mit ihrem wirtschaftlichen Aufstieg vom Auswanderungs- zum Einwanderungsland geworden. Die Zusammensetzung der Bevölkerung wandelte sich in jenen Jahrzehnten stark. Die Einbürgerung von Immigrantinnen und Immigranten wurde damals ausdrücklich gefördert. Der damals noch arme Albert Einstein war nach fünf Jahren Schweizer, wie viele andere Eingewanderte auch. Voraussetzung für die Einbürgerung war die Verpflichtung auf die gemeinsamen demokratischen Werte.
Die Schweiz zählt heute noch viel mehr als damals zu den internationalsten und international am stärksten verflochtenen Ländern. Die heutige Schweiz zeichnet sich aus durch eine enorme Vielfalt in der Zusammensetzung ihrer Bevölkerung. Ein grosser Unterschied zu damals aber ist die Einbürgerungspolitik. Die Einbürgerung ist in gewissen Gemeinden, auch im Kanton St.Gallen, ein Parcours voller Hürden und Fallen, über die viele nicht hinwegkommen. Hunderttausende, die hier geboren wurden und ihr ganzes Leben lang in der Schweiz gelebt haben, verfügen deshalb nicht über den Schweizer Pass. Obwohl sie das Bürgerrecht nicht haben, ist ihre Heimat die Schweiz.
Erst- und Zweitklassbürger
Eine Politik aber, die dazu führt, dass ein bedeutender Teil der ständigen Bevölkerung nicht über die vollen Rechte verfügt, widerspricht der politischen Gerechtigkeit. Es widerspricht auch den Grundgedanken der Demokratie, wenn ein Land dauerhaft zwischen Erstklassbürgern mit vollen Rechten und Zweitklassbürgern unterscheidet. Zweitklassbürgern, über denen immer auch das Damoklesschwert der Ausweisung hängt, obwohl die Schweiz ihre Heimat ist.
Eine Schweizer Staatsidee, welche die sprachliche, kulturelle und ethnische Vielfalt ausgehend von den heutigen Verhältnissen positiv besetzt, ist deshalb hoch aktuell. Diese aktualisierte Staatsidee setzt auf die gemeinsamen Werte der Freiheit, Gleichheit und der Demokratie und die Integration aller, die dauerhaft hier leben und arbeiten. Sie setzt auf das grosse Potenzial der in den letzten Jahrzehnten vielfältiger gewordenen realen Schweiz. Ein Potenzial, das aber politisch erst noch nachvollzogen werden muss.
Die Voraussetzungen dafür sind besser, als man vielleicht meinen könnte. Denn die Integrationsleistung der schweizerischen Gesellschaft ist heute im Alltag viel stärker als es politisch zum Ausdruck kommt. In der realen Arbeitswelt gilt das ohnehin. Von der Kultur und vom Fussball zu schweigen. In diesem Spannungsfeld zwischen fortgeschrittener gesellschaftlicher Praxis und rückwärtsgewandter Politik kann die aktualisierte Staatsidee einer kulturell vielfältigen und auf gemeinsame Werte verpflichteten Schweiz Ziele für eine politische Erneuerung stecken.
Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung widersprechen dieser schweizerischen Staatsidee. Den vollen und gleichwertigen Rechten für alle, die hier dauerhaft wohnen und arbeiten, entsprechen die grossen schweizerischen Institutionen, die für eine gesellschaftliche Integration sorgen, angefangen bei der AHV und bei der öffentlichen Bildung.
Integrieren statt spalten
Das sind zentrale Fragen, um die es bei den kommenden Herbstwahlen geht. Es geht um die grundlegenden Orientierungen unseres Landes. Wir treten ein für Ideen und Vorstellungen, die integrieren und Chancen für alle begründen statt dass sie spalten und ausgrenzen. Der Prozess dazu ist anspruchsvoll. Entscheidend ist – wie schon oft in der Schweizer Geschichte – die Fähigkeit, Widersprüche produktiv zu machen und aus Krisen zu lernen.
Die hier angesprochenen Fragen stellen sich für die ganze Schweiz. Über die Sitze im Parlament wird aber in den Kantonen entschieden. St.Gallen ist, gerade weil er ein so heterogener Kanton ist, «ein Haus aus vielen Häusern», ein spannendes politisches Labor. St.Gallen ist ein Kanton, der zu Überraschungen fähig ist, wie wir erlebt haben. Und unerwartet zu einem Kanton des Aufbruchs werden kann. Die Schweiz braucht einen neuen Aufbruch.