close
1. Mai 2014

Blog

Europa braucht eine neue soziale Agenda

Die 1. Mai-Rede 2014 hielt Paul Rechsteiner auf Einladung deutscher Gewerkschaften in Nürnberg. Er kritisiert die EU-Politik als unsozial.

eu flag 014

Vor genau hundert Jahren, 1914, wurde mit dem ersten Weltkrieg das Jahrhundert der Katastrophen eingeleitet, nach einer viele Jahrzehnte dauernden Friedensperiode. Die beiden Weltkriege brachten unermessliches Leid über Europa und die Menschheit. Und einen bis dahin unvorstellbaren Zivilisationsbruch. Der Name Nürnberg hat sich damals in die Weltgeschichte des Schreckens eingeschrieben, mit den Rassegesetzen und den Reichsparteitagen der Nazis. Und es waren die Nürnberger Prozesse gegen die Nazi-Hauptkriegsverbrecher, die das Ende dieser historisch beispiellosen Schreckensperiode besiegelten. Seit 1945 sind bald 70 Jahre vergangen. Fast alle von uns haben die Katastrophen des 20. Jahrhunderts nicht mehr selber erlebt. Umso wichtiger ist es, die grossen Zusammenhänge ins Bewusstsein zu holen. Deshalb möchte ich den Bogen etwas weiter spannen.

Umdeutung der Vergangenheit

Hohe Auflagen erzielen derzeit neue Bücher über den ersten Weltkrieg, die den Beginn dieses Völkermordens auf eine Vielzahl von Zufällen zurückführen. Den aggressiven Militarismus und die klar formulierten Kriegsziele gerade in Deutschland blenden sie aus. Der erste Weltkrieg ist aber nicht einfach ausgebrochen. Er hatte mit dem aggressiven Nationalismus klar benennbare Urheber und Ursachen.

Die Umdeutung der Vergangenheit ist weder harmlos noch betrifft sie nur die Historiker. Das Bild der Vergangenheit prägt auch den Blick auf die Gegenwart. Und die Orientierungen für die Zukunft. Wenn wir auf die Zeit nach 1945 zurückblicken, dann sind die Weichen mit dem Europaprojekt und der Überwindung des Nationalismus in Europa richtig gestellt worden. Es kann gar nicht hoch genug eingestuft werden, was die Generationen seit 1945 dem Friedensprojekt Europa alles zu verdanken haben. Aber so erfolgreich Europa als Friedensprojekt war und ist, so schwer ist das Modell Europa in einer sozialen Perspektive jetzt auf Abwege geraten. Das Europaprojekt verfolgte einst das Ziel, die Schaffung eines Binnenmarkts mit der Perspektive eines sozialen Europa zu verbinden. Es war diese soziale Perspektive, die für die Bevölkerungen Hoffnungen begründete.

EU hat sozial versagt

Bei dieser elementaren Aufgabe hat die EU in den letzten Jahren schwer versagt. Ganz extrem ist das seit der grossen Finanzkrise 2008. Diese Finanzkrise war ja nichts anderes als eine grosse Bankenkrise als Folge der gewaltigen Missbräuche im Finanzsektor, die wiederum eine Folge der neoliberalen Deregulierungen der letzten Jahrzehnte waren. Statt nun die Ursachen dieser Finanzkrise durch eine grundlegende Änderung der Regeln im Finanzsektor anzugehen, sind die Folgen der Finanzkrise mit voller Wucht auf die Bevölkerungen der südeuropäischen Länder überwälzt worden: durch brutale Austeritätsprogramme, mit denen das Diktat der Finanzmärkte an den Demokratien vorbei durchgesetzt wurde, und in Form von systematischem Sozialabbau als Bedingung für die Kredite, mit denen die Regierungen ihre Banken stützten. Während die Bevölkerungen leiden, fliessen die Boni wie eh und je.

Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen dieser Frankenstein-Programme sind verheerend. Statt Wachstum und Überwindung der Beschäftigungskrise gibt es eine Massenarbeitslosigkeit nie gekannten Ausmasses. Die Arbeitslosigkeit hat in Europa mit 26.5 Millionen einen historischen Höchststand erreicht. Im Euro-Raum sind fast 25% der Jungen unter 25 Jahren arbeitslos, in Spanien und Griechenland sind es über 55%. 120 Millionen Europäerinnen und Europäer leben inzwischen an oder unter der Armutsgrenze und sind von sozialer Ausgrenzung bedroht. Eine halbe Generation droht ihrer Zukunftsperspektiven beraubt zu werden. Diese Jungen müssen nun die Folgen der Missbräuche im Finanzsektor ausbaden.

Statt einer Teilung von Europa zwischen West und Ost müssen wir heute von einer Spaltung Europas in Nord und Süd sprechen. Die Idee des sozialen Europa ist durch die Realität des antisozialen Europa überholt worden. Dies bedroht das Europaprojekt als Ganzes.

Arbeitsrechte in Gefahr

Es muss schwer zu denken geben, dass die antisozialen Massnahmen der sogenannten Troika auch vor den Kernarbeitsrechten nicht mehr Halt machen, dem harten Kern der Arbeitsrechte, die weltweit gelten und garantiert sein müssen. Dazu gehören die Vereinigungsfreiheit und die aus der Vereinigungsfreiheit fliessenden Rechte wie die Tariffreiheit und das Streikrecht. Es ist jetzt so weit, dass in südeuropäischen Ländern die Minimalabsicherungen von Flächentarifverträgen und damit das Recht auf Kollektivverhandlungen ausgehebelt werden. Inzwischen muss sogar die Internationale Arbeitsorganisation feststellen, dass die EU durch diese antigewerkschaftliche Politik die Kernarbeitsrechte systematisch verletzt.

Dieser unglaubliche Angriff auf die fundamentalen Gewerkschaftsrechte ist nicht nur das Problem der spanischen und südeuropäischen Gewerkschaften und nicht nur das Problem unserer Kolleginnen und Kollegen in diesen Ländern. Die dreisten Angriffe auf die Gewerkschaftsrechte sind auch ein Angriff auf unsere Rechte. Denn wenn diese im Süden Europas ausgehebelt werden können, dann droht das früher oder später auch in unseren Ländern.

Die Gewerkschaften, die Bewegungen in den wirtschaftlich besser gestellten Ländern wie den unseren haben die Verantwortung und die Verpflichtung, in diesem Kampf um elementare Rechte mit voranzugehen. Es sind unsere gemeinsamen Rechte. Wenn wir uns nicht mit allen Mitteln dagegen wehren, was hier von der Troika unter Verletzung elementarer sozialer Rechte diktatorisch durchexerziert wird, dann wird das nicht nur die Bevölkerungen in den heute betroffenen Ländern treffen, sondern letztlich auch uns selber und die lohnabhängige Bevölkerung bei uns schwächen.

Spirale nach unten

Was für die Gewerkschaftsrechte gilt, gilt für den Abbau sozialer Errungenschaften ganz generell. Dieser setzt eine Spirale nach unten in Gang, die am Schluss auch jene trifft, die davon vermeintlich am Anfang nicht betroffen sind. Die brutalen Lohnsenkungen bei vorher schon tiefen Löhnen und der Ausverkauf der öffentlichen Dienste von der Wasserversorgung bis hin zur Verkehrsinfrastruktur – das ist nicht nur volkswirtschaftlich dumm. Beabsichtigt ist damit auch eine Machtdemonstration. Es soll auch uns etwas sagen, wenn hier die neoliberalen Rezepte über die Köpfe der betroffenen Bevölkerungen hinweg quasi-diktatorisch durchgedrückt werden. Und das obwohl der Neoliberalismus mit dem Beinahe-Kollaps des Weltfinanzsystems dramatisch versagt hat. Ganz Europa soll demonstriert werden, wer im Verhältnis von Kapital und Arbeit das Sagen haben will. Wirtschaftliche Vernunft hin oder her. Ganz zu schweigen von der sozialen Vernunft.

Diese politischen Rezepte sind obszön; umso dringender ist eine Alternative, eine soziale Alternative. Wer sonst soll diese Alternative, diese politische Wende einleiten, wenn nicht die sozialen Bewegungen? Und die grösste und stärkste der sozialen Bewegungen, die Gewerkschaften?

Mindestlöhne als Lichtblick

Es gibt Lichtblicke. Vielversprechende Lichtblicke. Lange waren Mindestlöhne, nationale Mindestlöhne, innerhalb der Gewerkschaftsbewegung umstritten. Auch in der Gewerkschaftsbewegung unserer Länder, der deutschen und der schweizerischen. Seit die Gewerkschaften diese Forderung aufgenommen haben und sie aktiv vorantreiben, macht sie ihren Weg. Unaufhaltsam. Weil sie einem elementaren sozialen Bedürfnis entspricht.

Lange war die Befürchtung auch in unseren Reihen präsent, dass Mindestlöhne negative Folgen haben könnten. Diese Befürchtung hat sich nicht bewahrheitet. Nirgends. Überall, wo ein Mindestlohn eingeführt wurde, waren die Folgen positiv. Für die Betroffenen. Aber auch wirtschaftlich. Mindestlöhne schieben das Lohngefüge nach oben. Sie sind deshalb auch das beste Mittel gegen Lohndruck und Billiglohnpolitik. Die menschliche Arbeit ist keine Billigware. Die Arbeit hat einen Wert – und einen Preis. Arbeit muss sich lohnen.

Mindestlöhne sind die sozialpolitische Forderung der Stunde, weltweit. Für die Näherinnen in Bangladesch im Kampf gegen die Hungerlöhne, wenn sie die Kleider nähen, die bei uns verkauft werden. In den USA, wo Präsident Obama in seiner «State of the Union»-Rede eine substanzielle Erhöhung des sehr tiefen Mindestlohns angekündigt hat. Aber auch in Europa, hier in Deutschland. Und in der Schweiz. Der neue deutsche Mindestlohn ist ein historischer Durchbruch, auch wenn er mit 8.50 Euro in seiner Höhe noch Luft nach oben hat. Der Mindestlohn ist die wichtigste sozialpolitische Errungenschaft der Grossen Koalition. Und gleichzeitig der Beweis dafür, welche sozialpolitische Schubkraft die Gewerkschaften entwickeln können, wenn sie entschlossen antreten. Der Mindestlohn wird für ein Stück elementarer Lohngerechtigkeit sorgen. Und für substanziell mehr Kaufkraft für jene, die es wirklich brauchen.

Bereits ein Erfolg

Die Mindestlohninitiative der Schweizer Gewerkschaften ist ein grosser Erfolg. Dies ganz unabhängig davon, wie das Abstimmungsresultat in der Volksabstimmung vom 18. Mai aussehen wird. Die Kampagne hat zu grossen Lohnbewegungen in bisherigen Tieflohnbereichen geführt. So haben Konzerne wie Aldi, Lidl oder H&M die tiefen Löhne auf einen Schlag auf das Niveau der Initiative angehoben, um das Image ausbeuterischer Löhne loszuwerden. Ohne Mindestlohninitiative wären diese Lohnbewegungen undenkbar geblieben. In den Tieflohnbereichen haben endlich nicht mehr nur die Beschäftigten ein Problem, die von solchen Löhnen nicht leben können. Sondern auch die Arbeitgeber, die solche Schandlöhne zahlen.

Transnational ist die Forderung nach Mindestlöhnen heute so zentral wie einst das Verbot der Kinderarbeit, die Einführung von Höchstarbeitszeiten und die Regelung von Ferienansprüchen. Auch diese Errungenschaften kamen nicht von selber; sie mussten über Jahre und Jahrzehnte hart erkämpft werden.

Das Ziel der Mindestlohnpolitik müssen Löhne sein, von denen die Menschen anständig leben können. So wie es das Ziel der Rentenpolitik sein muss, für Renten zu sorgen, die ein Alter in Würde ermöglichen. Gerade deshalb ist die Auseinandersetzung um die Zukunft des Sozialstaats so entscheidend. Denn die systematische Diskreditierung des Sozialstaats war Teil der neoliberalen reaktionären Wende mit dem durchsichtigen Ziel, höhere Kapitalprofite zu garantieren. Es ist ein grundlegendes Missverständnis, wenn behauptet wird, dass der Sozialstaat die Freiheit beschränke.

Freiheit heisst, wie es die Atlantikcharta 1941 in unvergleichlicher Weise formuliert hat, nicht nur Meinungs- und Religionsfreiheit, sondern vor allem und zunächst auch Freiheit von Not. Menschen in elementarer wirtschaftlicher und sozialer Not sind nicht frei. Deshalb bedeutet ein funktionierender Sozialstaat für die grosse Mehrheit der Bevölkerung Freiheit. Die soziale Sicherheit ist geradezu die Voraussetzung von Freiheit. Deshalb ist der Sozialstaat die grösste Errungenschaft der Arbeiterbewegung des 20. Jahrhunderts.

Sozialstaat bedeutet Freiheit

Wenn es um die grossen Lebensrisiken der Menschen geht – vom Alter über die Krankheit bis hin zur Arbeitslosigkeit –, dann gibt es kein effizienteres und leistungsfähigeres Prinzip als eine Sozialversicherung. In einer entwickelten Wirtschaft und Gesellschaft gibt es keine Alternative zur kollektiven Absicherung der grossen Risiken. Ausser vielleicht für die kleine Minderheit der Superreichen.

Besonders wirksam ist eine Sozialversicherung, wenn sie auch sozial finanziert ist. Ein Musterbeispiel dafür ist die schweizerische AHV, die Alters- und Hinterlassenenversicherung, das Herzstück des Schweizer Sozialstaats. Die Beitragspflicht für diese Volksversicherung ist gegen oben unbegrenzt, auch die hohen und höchsten Einkommen sind voll beitragspflichtig. Aber auch die Leute mit Spitzeneinkommen bekommen keine höheren Leistungen als die Mehrheit der Lohnabhängigen. So funktioniert eine gute Sozialversicherung: Das Prinzip der Effizienz verbindet sich mit dem Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit. Und umgekehrt: Das Prinzip der Solidarität erzeugt auch wirtschaftlich eine hohe Wirksamkeit.

Das sind Grundsätze, die wir in unseren verunsicherten und auseinanderdriftenden Gesellschaften offensiv vertreten müssen. Sie sind die Grundlage dafür, dass der weltweite Trend zu immer mehr Ungleichheit gebrochen werden kann. «Capital in the Twenty First Century» heisst das neue Schlüsselwerk des französischen Ökonomen Thomas Piketty. Leider ist es auf Deutsch noch nicht erschienen. Das Buch liefert den schlagenden Beweis dafür, dass das schlechte Gefühl über die unsoziale Entwicklung der letzten Jahrzehnte nicht trügt: Die Ungleichheit in unseren kapitalistischen Gesellschaften hat dramatisch zugenommen.  

Ungleichheit bekämpfen

Die wachsende Ungleichheit ist eine wissenschaftlich erhärtete Tatsache: Das ist die schlechte Botschaft. Die gute Botschaft ist, dass wir dagegen etwas unternehmen können. Das Rezept ist so einfach wie elementar: Steigende Löhne für die grosse Mehrheit der Lohnabhängigen mit unteren und mittleren Einkommen, die Stärkung des Sozialstaats und der öffentlichen Dienste und der Gemeingüter.

Und progressive Steuern. Damit das Steuersystem in einer globalisierten Welt wieder funktioniert, braucht es transnationale Regeln, die dafür sorgen, dass die Reichen sich nicht mehr von den Pflichten verabschieden können, die für die gewöhnlichen Sterblichen gelten. Ich sage das auch und gerade als Schweizer, als Schweizer Gewerkschafter.

Es braucht eine neue soziale Agenda. Auf nationaler Ebene. In Europa. Weltweit. Nehmen wir das Beispiel des Hungers. Weltweit gibt es nicht zu wenig Nahrung. Aber Teile der Weltbevölkerung verfügen nicht über die nötigen Mittel dafür. Der Welthunger verweist auf ein soziales, ein politisches Verhältnis, das geändert werden kann. Geändert werden muss. Es handelt sich um soziale Gewaltverhältnisse. Wie bei der Massenarbeitslosigkeit. Es geht nicht einfach um individuelles Verhängnis, sondern um ein soziales Verhältnis. Dieses soziale Verhältnis kann politisch, wirtschaftspolitisch geändert werden.

Eine neue soziale Agenda braucht es nach den verheerenden Erfahrungen der letzten Jahre vor allem in Europa. Ein Programm, das den Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit an die Spitze der Agenda setzt. Es braucht einen neuen «Marshall-Plan für Europa» für Wachstum und nachhaltige Investitionen. Eine Agenda, die dafür sorgt, dass die sozialen Rechte und die sozialen Ziele endlich wieder Priorität bekommen.

Herausforderung für Gewerkschaften

Von selber wird das nicht geschehen. Dass die europäische Gewerkschaftsbewegung, der Europäische Gewerkschaftsbund nicht auf der Höhe der gewaltigen Herausforderungen ist, hilft als Feststellung nicht weiter, so zutreffend sie ist. Wer ist der Europäische Gewerkschaftsbund? Nichts anderes als ein gemeinsames Projekt unserer nationalen Gewerkschaften. Der Europäische Gewerkschaftsbund steht und fällt mit der Beteiligung der nationalen Verbände.

Leider hat die europäische Krise den Trend zum nationalen Rückzug verstärkt, dies trotz der beeindruckenden Mobilisierungen in den südeuropäischen Ländern an den europäischen Aktionstagen. Es gibt keine Alternative zur Formulierung einer gewerkschaftlichen Politik auf europäischer Ebene. Wenn es um die übergeordneten Interessen geht, funktioniert das Kapital längst transnational. Wer ausschliesslich im nationalen Rahmen denkt, der denkt zu kurz.

Was es braucht, sind mobilisierende Forderungen und geeignete Kampfmittel auf transnationaler Ebene. Vor kurzem haben die europäischen Verbände des Öffentlichen Dienstes 1.7 Millionen Unterschriften für eine Europäische Bürgerinitiative gegen die Privatisierung des Wassers zusammengebracht. Dieses transnationale Kampfmittel offensiv einzusetzen, muss doch auch dem Europäischen Gewerkschaftsbund und den ihm angeschlossenen nationalen Gewerkschaften gelingen. Die Rechtswirkungen der Europäischen Bürgerinitiative mögen beschränkt sein. Aber: Die EU-Kommission und der Europäische Gerichtshof werden Probleme bekommen, ihre antisoziale Politik einfach so fortzusetzen, wenn auf diesem Weg elementare soziale Forderungen auf die europäische Agenda kommen. Wie jene nach dem Vorrang der sozialen Rechte vor den Marktfreiheiten. Oder der wirksame Schutz vor Lohndumping.

Und es steht noch mehr auf dem Spiel. Die Proteste gegen die antisozialen Entwicklungen in Europa führen entweder nach links oder aber sie kippen nach rechts. Entweder in Richtung einer sozialen Entwicklung. Oder aber in Richtung von Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit. Die Gewerkschaften als stärkste und bestorganisierte der sozialen Bewegungen müssen sich ihrer Stärke und ihrer Verantwortung bewusst werden. Sie müssen die elementaren sozialen Forderungen bündeln und den Weg zu einem sozialen Europa vorangehen. Es geht um extrem viel. Für die Menschen, die wieder eine positive Perspektive brauchen. Genauso wie für das Europaprojekt.

Zukunft ist unvorhersehbar

Blicken wir noch einmal zurück. Machen wir einen Zeitsprung von 25 Jahren zurück ins Jahr 1989. Aus der damaligen Perspektive, der Perspektive von 1989 mit dem Europa der zwölf, war unvorstellbar, was sich in den darauffolgenden 25 Jahren alles verändern würde. Die Überwindung der Teilung Europas zwischen Ost und West. Die Erweiterung auf 28 Staaten. Das sind nur Stichworte dafür. Ganz zu schweigen von der Schaffung des Euro.

Was lehrt dieser Perspektivenwechsel? Die Zukunft ist unvorhersehbar, sie steckt voll Überraschungen. Aber gerade in Umbruchzeiten zählen Vorstellungen davon, was sich ändern soll. Oder um Vaclav Havel zu zitieren, «dass wir Verantwortung übernehmen müssen, ohne den Ausgang zu kennen».

Die Gewerkschaften sind lebendige Organisationen, welche die Menschen, die von der Arbeit leben und leben müssen, unabhängig von der Herkunft organisieren. Sie sind Organisationen, die sich an den elementaren Lebensbedürfnissen wie Lohn und Rente orientieren. Die deshalb den Schwierigkeiten und Widersprüchen des Alltags nicht ausweichen können. Und die sich dennoch an weiterreichenden Zielen orientieren müssen.

Der 1. Mai ist der einzige nichtreligiöse Feiertag, der weltumspannend gefeiert wird. Entstanden ist er nicht auf Anweisung von oben, sondern durch eine Bewegung armer Frauen und Männer im Kampf für soziale Gerechtigkeit. Dieser Kampf ist unter veränderten Bedingungen so aktuell wie damals. Der 1. Mai steht für eine soziale und demokratische Alternative zu den vorherrschenden antisozialen Fehlentwicklungen. Und er steht für die gewaltige Kraft der Solidarität.