100 Jahre ist es her seit dem Generalstreik. Seit der grössten und machtvollsten Massenbewegung, die unser Land je gesehen hat.
250'000 Männer und Frauen hatten sich am Generalstreik aktiv beteiligt. Gemessen an der heutigen Bevölkerung wären das weit über eine halbe Million. Und noch viel mehr Menschen hatten mit der Streikbewegung sympathisiert. Mit ihr gebangt und gehofft.
Der Generalstreik war ein gewaltiger sozialer Protest. Und ein politischer Streik. Gegen den Militäreinsatz gegen die eigene Bevölkerung. Aber vor allem: Für den politischen und sozialen Fortschritt in einer verkrusteten Schweiz. Für das Frauenstimm- und -wahlrecht. Für die Einführung der AHV, einer Alters- und Hinterlassenenversicherung. Und für den Achtstundentag.
Der Bundesrat bot gegen die streikenden Arbeiterinnen und Arbeiter die Armee auf. Er liess die Städte militärisch besetzen. Das Oltener Aktionskomitee hatte die Weisheit, das drohende Blutvergiessen zu vermeiden. Es beschloss den Abbruch des Streiks. Die Niederlage war bitter. Das Volksrecht schrieb: «Es ist zum Heulen». – Aber je mehr die Zeit verstrich, so grösser wurden die Erfolge der Streikbewegung. Streikabbruch hin oder her. Die Arbeiterbewegung hatte sich ihre Anerkennung und ihre Würde erkämpft.
Wenige Monate nur dauerte es, bis der Achtstundentag eingeführt wurde. Der Achtstundentag war die zentrale Forderung der internationalen Arbeiterbewegung, seitdem 1890 der 1. Mai erstmals gefeiert wurde. 30 Jahre später war die Forderung in der Schweiz realisiert: Die 48-Stunden-Woche, weil ja damals auch am Samstag noch gearbeitet wurde.
Wir müssen uns nochmals vor Augen halten, was damals passiert ist. Die Maximalarbeitszeit lag bis 1918 bei 59 Wochenstunden. Jetzt wurde die Wochenarbeitszeit von 59 Stunden auf 48 Stunden herabgesetzt. Das war eine Reduktion von 11 Stunden pro Woche auf einen Schlag. So etwas hatte es vorher nie gegeben und auch seither nie mehr. – Dass es im bürgerlich beherrschten Parlament dazu kam, war nicht darauf zurückzuführen, dass die Bürgerlichen und die Wirtschaftsverbände plötzlich ihre Liebe zu den Arbeiterinnen und Arbeitern entdeckt hätten. Die Beschlüsse waren die Reaktion auf den Generalstreik. Sie zeigten, wie sehr ihnen die gewaltige Bewegung in die Knochen gefahren war.
Später, in den 20er-Jahren, als sich die Bürgerlichen wieder gefasst hatten, gab es mehrere Versuche aus dem Bundeshaus, das Rad der Zeit zurückzudrehen und die Arbeitszeit wieder heraufzusetzen. Aber sie scheiterten. Spätestens in der Volksabstimmung.
Heute sind wir beim Thema Arbeitszeit im Parlament wieder mit einem Grossangriff konfrontiert. Gleich nach dem Rechtsrutsch in den letzten Wahlen reichten bürgerliche Parlamentarier Vorstösse für die Abschaffung der Schutzvorschriften des Arbeitsgesetzes ein. Für ganze Branchen und ganze Kategorien von Beschäftigten soll es keine Höchstarbeitszeiten mehr geben. Im Klartext folgt aus der Abschaffung der Schutzvorschriften nichts anderes, als dass die Leute in Zukunft Gratisarbeit leisten sollen. Mehr verdienen würden sie trotz längeren Arbeitszeiten nicht.
Weit sind diese bürgerlichen Parlamentarier mit ihren Abbruchvorstössen bis heute nicht gekommen, auch wenn sie vorläufig auf die geschlossene Unterstützung ihrer Parteien zählen können. Denn wir haben klargemacht: Wir werden eine Verschlechterung des Arbeitsgesetzes mit dem Referendum bekämpfen, so wie wir und wie unsere Vorgänger das schon in den 20er und 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts erfolgreich getan hatten. Denn die Leute werden sich den Schutz des Arbeitsgesetzes nicht wegnehmen lassen.
Eine wichtige Forderung des Generalstreiks war auch das Frauenstimm- und –wahlrecht. Wie wir wissen, dauerte es geschlagene 53 Jahre, bis die Männerschweiz 1971 dann endlich soweit war. Und ohne 1968 und ohne die Europäische Menschenrechtskonvention wäre es noch viel länger gegangen. Wäre der Generalstreik auch bei dieser Forderung erfolgreich gewesen, dann wäre die Schweiz damals eines der vielen Länder gewesen, die das Frauenstimmrecht damals eingeführt hatten.
Was beim Frauenstimmrecht passiert ist – jahrzehntelange Verschleppung, das Problem verneinen, verharmlosen, verwischen – das droht jetzt auch beim Lohngleichheitsanspruch. Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit ist seit 1981 in der Bundesverfassung verankert. Aber noch immer, nach bald 40 Jahren, verdienen Frauen auch für gleichwertige Arbeit 600 Franken im Monat weniger als Männer. Die Verschleppung wirksamer Massnahmen im Parlament muss endlich aufhören: Lohngleichheit. Punkt. Schluss!
Dass es auch anders geht, macht uns das kleine Island vor. Dort ist vor einem Jahr beschlossen worden, die Lohngleichheit bis 2022 definitiv zu beseitigen. Mit verbindlichen Massnahmen und Sanktionen. Und siehe da, die Dinge kamen in Bewegung. Einen solchen Vulkan braucht auch die Schweiz!
Weniger lang als beim Frauenstimmrecht, aber 30 Jahre dauerte es auch, bis 1948 eine weitere zentrale Forderung des Generalstreiks realisiert wurde: die Alters- und Hinterlassenenversicherung, die AHV. Die AHV ist die grösste Errungenschaft unseres Sozialstaats. Sie sorgt für ein Stück Solidarität und ausgleichende Gerechtigkeit in unserer kapitalistischen Gesellschaft.
Bei der Zukunft der AHV geht es um eine Weichenstellung für die Zukunft des Sozialstaats. Die Frage lautet: Wird die AHV gestärkt, und damit die Logik der Solidarität, die die Schweiz zusammenhält? Oder wird die AHV geschwächt, und mit ihr die Solidarität, im Interesse der Reichen und Superreichen?
Die AHV braucht jetzt nach Jahrzehnten wieder eine Zusatzfinanzierung. Seit 1975, also seit über 40 Jahren, zahlen wir die gleichen Lohnbeiträge an die AHV, und das obwohl sich die Zahl der Rentnerinnen und Rentner in dieser Zeit mehr als verdoppelt hat. Und jetzt braucht es eine Zusatzfinanzierung. Weil die geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge ins Rentenalter kommen. Das ist die erste Forderung.
Zweitens müssen wir die Verbesserung der AHV-Renten wieder auf die Tagesordnung setzen. Die Renten haben mit den Gesundheitskosten und den Mieten schon lange nicht mehr Schritt gehalten. Und für die künftigen Rentnerinnen und Rentner gilt, dass ihre Pensionskassenrenten ständig sinken. Einen Ausgleich schafft nur die AHV.
All jenen, denen der letzte Herbst noch in den Knochen steckt, müssen wir sagen: Wir sind bei der Forderung nach besseren AHV-Renten näher an einem Erfolg, als viele denken. Im Herbst 2016, also vor eineinhalb Jahren, standen höhere Renten der AHV zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder zur Diskussion. Die Volksinitiative «AHVplus» machte damals mehr als 40 Prozent Ja-Stimmen. Der zweite Anlauf für eine Rentenverbesserung war die Altersvorsorge 2020. Sie wurde nur noch knapp abgelehnt, mit über 47 Prozent Ja. Der grosse Fehler dieser Vorlage war, dass die heutigen Rentnerinnen und Rentner leer ausgegangen wären. Das Rentner-Nein zur Altersvorsorgereform war kein Nein zur Rentenverbesserung. Sondern ein Aufruf, sie bei einer Neuauflage nicht zu vergessen.
Bei den Kämpfen für die AHV tun wir gut daran, uns an die Erfahrungen der Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung zu erinnern. Nach dem Generalstreik musste sie immer wieder Niederlagen einstecken, bis es endlich 1948 soweit war. – Denn: Auf lange Sicht zählt nicht die Niederlage. Sondern die Kraft, das Engagement, der Mut, für die berechtigte Forderung weiterzukämpfen. Im entscheidenden Moment braucht es günstige Umstände und etwas Glück. Aber von selber hat sich aber der soziale Fortschritt noch nie eingestellt. Es brauchte immer den Druck einer starken Bewegung für eine berechtigte Forderung.
Grosse Konflikte drohen in den nächsten Monaten bei der Erneuerung von Gesamtarbeitsverträgen. Dabei geht es gleich um zwei Schlüsselverträge, die Gesamtarbeitsverträge auf dem Bau und bei den SBB.
Fangen wir an mit den SBB. An der Spitze des Unternehmens steht ein Mann, der alles dafür gemacht hat, für sich selber mehr als eine Million pro Jahr zu kassieren. Wie kommt die Unternehmensleitung mit diesem CEO nun dazu, den Gesamtarbeitsvertrag und die Arbeitsbedingungen der Bahnangestellten verschlechtern zu wollen, der Zugsbegleiter, der Lokführer, der Techniker? Sie alle machen einen hervorragenden Job. Sie sorgen tagtäglich dafür, dass unsere Bahn so gut funktioniert, unabhängig von den Kapriolen an der Spitze.
Weiss Herr Meyer nicht, dass er mit diesem Angriff auf den Gesamtarbeitsvertrag mit dem Feuer spielt? Die Angestellten der SBB lassen sich bekanntlich nicht so rasch aus der Ruhe bringen. Und ihre Gewerkschaft, der SEV, ist vorsichtig und zurückhaltend, wenn es um Kampfmassnahmen geht. Denn der öffentliche Verkehr ist höchst sensibel und störungsanfällig.
Aber man kann es auch zu weit treiben. Die Unternehmensleitung wäre gut beraten, sich bewusst zu werden, dass sie nicht kleine Kapitalisten sind, auch wenn auf der Chefetage inzwischen die Unsitte der Boni grassiert. Sondern dass sie für ein öffentliches Unternehmen, ein Bundesunternehmen, für den Service Public arbeiten. Die Öffentlichkeit will gut funktionierende Bahnen mit einem anständig bezahlten und entsprechend qualifizierten Personal. Es verdient die nötige Wertschätzung nicht nur des Publikums, die es hat. Sondern auch jene ihrer eigenen Chefetage.
Vielleicht sollte die Unternehmensleitung einen Blick nach Frankreich werfen. Man muss sich einmal vorstellen, was ein Streik bei der Bahn in der Schweiz bedeuten würde. Auch nur schon ein beschränkter, zielgerichteter Warnstreik. Die Unternehmensleitung sollte sich bewusst werden, dass sie im Glashaus sitzt. Wenn das Personal der Bahn seit dem Generalstreik nie mehr gestreikt hat, muss das nicht heissen, dass das für immer und ewig so bleiben muss.
Eine andere Streiktradition kennt der Bau. Beim Gesamtarbeitsvertrag auf dem Bau greifen die Baumeister einmal mehr die Sonderlösung für Rentenalter 60 an, wenn auch nicht im Grundsatz, so doch bei den entscheidenden Bedingungen und der Finanzierung. Rentenalter 60 ist einer der grössten gewerkschaftlichen Erfolge der letzten Jahre. Rentenalter 60 auf dem Bau war die Antwort auf eine schreiende Ungerechtigkeit: die Ungleichheit vor dem Tod. Die Bauarbeiter hatten ein viel höheres Invaliditätsrisiko. Und sie sterben im Schnitt früher als Leute in privilegierteren Berufsgruppen. Rentenalter 60 für die Bauarbeiter ist nicht ein Privileg. Es ist ein Gebot elementarer Gerechtigkeit.
So wie es 2002 einen grossen Branchenstreik brauchte, damit das Rentenalter 60 auf dem Bau realisiert werden konnte, wird vielleicht wieder ein grosser Arbeitskampf nötig. Dieses Mal, um das Rentenalter 60 auf dem Bau zu verteidigen, wenn die Baumeister nicht rechtzeitig einlenken. Die Bauarbeiter und die Unia werden auf die Unterstützung der ganzen Gewerkschaftsbewegung zählen können.
Ein weiteres wichtiges Feld der Auseinandersetzung wird in den kommenden Jahren wieder der Service Public sein. Hier hat die Volksabstimmung zu «No Billag» die Dinge zurecht gerückt. Wieder hat sich gezeigt, dass der Service Public in der Bevölkerung stark verankert ist. Viel besser als im Bundeshaus. Vor allem und entgegen einer medialen Wahrnehmung gerade auch bei der jungen Generation. Stärkung statt Schwächung des Service Public muss die Stossrichtung sein.
Ein Wort schliesslich zum Internationalismus unserer Bewegung. Der Solidarität mit Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern und den sozialen Bewegungen weltweit, die oft unter schwierigen oder schwierigsten Bedingungen kämpfen müssen.
Der Nationalstaat bleibt unverzichtbar als Grundlage des Sozialstaats. Überhaupt als Voraussetzung von staatlicher Regulierung.
Unsere Bewegung bezieht sich aber auf die Menschen unabhängig von ihrer Herkunft. Der Internationalismus ist eine grosse Errungenschaft, aller Rückschläge zum Trotz, die er immer wieder erlitten hat.
Die grundlegenden Rechte der Menschen, die Menschenrechte, machen nicht an den Grenzen des Nationalstaats Halt. Wir müssen sie verteidigen, erst recht in schwierigen Zeiten. Sie sind ein wichtiges Mittel im Kampf gegen Rassismus, gegen Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit.
Mit der sogenannten «Selbstbestimmungsinitiative» führt die SVP einen Angriff auf die Menschenrechte, wie es ihn in der Schweiz noch nicht gegeben hat. In Tat und Wahrheit ist die Initiative der SVP eine Anti-Menschenrechts-Initiative. Die Menschenrechte sind auch unsere Rechte. Wir haben die Volksabstimmung noch nicht gewonnen. Aber wir können und müssen sie gewinnen.
Kämpfen wir für ein klares Nein. Die Menschenrechte gehören zur Schweiz.
Es lebe die Solidarität. Es lebe der 1. Mai.
1. Mai 2018
Blog
Aus dem Generalstreik lernen
Was beim Frauenstimmrecht passiert ist – Verschleppung und Verharmlosung – droht uns auch bei der Lohngleichheit. Die Rede zum Tag der Arbeit.