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6. Juli 2022

Blog

Kein Nachfrage-, sondern ein Angebotsproblem

Die erfolgreiche schweizerische Bahnpolitik ist gefährdet. Jetzt gilt es, die Weichen zu stellen.

SBB CFF FFS RABe 503 014 links klein



Die schweizerische Bahnpolitik der letzten Jahrzehnte ist eine Erfolgsgeschichte. Gerade im internationalen Vergleich. Auch in der Schweiz wurde ab den 1960er-Jahren mit dem Nationalstrassenbau die Vollmotorisierung forciert, mit gewaltigen Investitionen. Seit den 1990er-Jahren konnte die Bahn aufholen. Stichworte: Taktfahrplan, Bahn 2000, Alpeninitiative, Neat, die S-Bahnsysteme und die in den letzten 10 Jahren beschlossenen Ausbauprogramme. Die Bevölkerung stand bei allen Projekten stabil hinter der Bahn. Oft mit dem Bundesrat. Wo es nötig war auch gegen ihn. Das spektakulärste Beispiel für letzteres war die Alpeninitiative, ein avantgardistisches Projekt – auch im europäischen Massstab («Güter im alpenquerenden Verkehr auf die Bahn»).


Seit kurzem häufen sich allerdings die Signale, dass diese Erfolgsgeschichte gefährdet ist. Es begann damit, dass die enormen Ertragsausfälle der Corona-Krise beim Fernverkehr nicht ausgeglichen werden sollten, im Gegensatz zum Orts- und Regionalverkehr. Obwohl der Rückgang des öffentlichen Verkehrs durch die Covid-19-Massnahmen den Fernverkehr viel stärker traf als den regionalen und den Ortsverkehr. Der Bundesrat begründete dies damit, dass die SBB die Verluste selbst stemmen könnten. Die SBB-Spitze wagte keinen Widerspruch.

Die wahre Agenda wurde erst mit Verzögerung ersichtlich: Der SBB war als Folge der Verluste ein massives Sparprogramm aufoktroyiert worden. Auf dem Buckel des Personals und der Weiterentwicklung des Bahnangebots. Wie sich nun zeigt, sollten längst beschlossene Projekte wie der Halbstundentakt im Rheintal nicht oder nur teilweise realisiert werden, entgegen Parlamentsbeschlüssen und einer Volksabstimmung.

Ähnliches droht als Folge des Entscheids, für die Rollmaterialbeschaffungen der Zukunft auf konventionelle Züge zu setzen, anstelle des Pannen-Dosto. Zwar kann man Verständnis dafür haben, dass auf die Beschaffungsabenteuer der Ära von SBB-Chef Andreas Meyer verzichtet wird. Wenn dies aber dazu führt, dass die in Aussicht genommenen Verbesserungen im schnellen Ost-West-Verkehr auf den bisher unterentwickelten Strecken Fribourg-Lausanne und Winterthur-St.Gallen zwischen Stuhl und Bänke fallen, hätte das fatale Konsequenzen. Auf diesen Streckenabschnitten liegt die Reisegeschwindigkeit noch immer deutlich unter 100 km/h. Dies ausgerechnet in einer Zeit, in der im Nationalstrassenbau ein neuer Investitionszyklus eingeleitet wird. Allein bis 2030 sollen in neue Nationalstrassen 12 Milliarden Franken verbaut werden.

Immerhin konnte jetzt eine Gegenbewegung eingeleitet werden. Im Juni ist eine Motion des Ständerats für eine Kompensation der Covid-Verluste im Fernverkehr auch vom Nationalrat gutgeheissen worden. Gegen den heftigen Widerstand des Bundesrats respektive des federführenden Finanzdepartements. Zum anderen ist nun politisch geklärt, dass die von Parlament und Volk beschlossenen Ausbauprojekte nicht zusammengestrichen werden dürfen, sondern realisiert werden müssen. Dank entschiedenem Widerstand aus dem Kanton St.Gallen gegen die Abbaupläne im Rheintal.

Nötig ist aber nicht nur der Verzicht auf die Abbaumassnahmen. Wenn die klimapolitischen Ziele beim Verkehr erreicht werden sollen, dann braucht es im Bahnverkehr einen neuen grossen Effort für eine attraktive Bahn der Zukunft. Bei Investitionen in die Bahn muss in grossen Zeiträumen gedacht werden. Die grossen Fortschritte im Nord-Süd-Verkehr, von denen wir jetzt profitieren, sind die Folge von Beschlüssen der 1990er-Jahre. Jetzt sind neue Investitionen auf der verkehrsmässig dominierenden West-Ost-Achse fällig. Allerdings nicht nur zwischen Zürich und Bern. Sondern auch auf den bisher vernachlässigten Achsen Lausanne-Fribourg und Winterthur-St.Gallen.

Darüber hinaus muss die SBB entschuldet werden, wenn sie ihre zentrale Rolle bei der Weiterentwicklung des öffentlichen Verkehrs spielen soll. Weil die Schulden des Bundesunternehmens in der Ära der Null- und Negativzinsen keine grosse Rolle spielten, war das bisher ein Tabu. Nach der Zinswende sieht das anders aus.

Ein Grundsatzentscheid muss sodann beim Binnengüterverkehr fallen. Während sich der alpenquerende Güterverkehr auf der Bahn seit der Weichenstellung der Alpeninitiative auch dank der Neat positiv entwickelt, setzt sich der Niedergang des Binnengüterverkehrs auf der Bahn ungebremst fort. Beschleunigt wurde der Abstieg durch die in der Ära Leuthard eingeführte Verpflichtung zur Eigenwirtschaftlichkeit. Wenn der Bahngüterverkehr in der Fläche eine Zukunft haben soll, dann nur mit einer klaren Strategie verbunden mit öffentlichen Investitionen. Klimapolitisch gibt es dazu keine Alternative.

Weiter ausgebaut werden müssen ausserdem die internationalen Verbindungen in Europa. Hier muss die Bahn mit Blick auf die Zukunft wieder zum dominierenden Verkehrsmittel werden. Die Bahn hat kein Nachfrageproblem, sondern das Problem des nicht ausreichenden Angebots. Vernünftige und attraktive Preise gehören dazu.

Die letzten Wochen haben gezeigt, dass der Verteilkampf um die Bundesfinanzen härter wird. Aber wenn die Weichen für die Zukunft der Bahn falsch gestellt werden, wird sich das über Jahrzehnte hinaus rächen. Verkehrspolitisch und klimapolitisch.


(Foto: Wikimedia Commons/Markus Eigenheer)