Nach dem knappen Scheitern von Altersvorsorge 2020 steht für die kommenden Jahre eine Neuauflage der Reformdebatte an. Vor dem Einstieg in die Diskussionen drängt sich eine nüchterne Analyse der sich stellenden Probleme auf. Daraus ergibt sich, dass sich die Ausgangslage gegenüber dem Zeitpunkt, als die Vorarbeiten für Altersvorsorge 2020 in Angriff genommen wurden (2012), noch einmal stark verschärft hat.
Dies gilt allerdings nicht in erster Linie für die Lage der Vorsorgeeinrichtungen, sondern vor allem für die Renten der heute Erwerbstätigen, das heisst der zukünftigen Rentnerinnen und Rentner. Obwohl die Löhne steigen, sinken die Durchschnittsrenten aus den Pensionskassen seit Jahren. Das ist nicht nur der Befund der offiziellen Statistiken. Auch die Autoren der neuesten Pensionskassenstudie von Swisscanto stimmt «nachdenklich», dass vor fünf Jahren bei einem Erwerbseinkommen von 80‘000 Franken die Abdeckung durch die Altersrenten von AHV und Pensionskasse noch 80 Prozent betrug. Im letzten Jahr ist sie auf 71 Prozent gesunken. Die Verschlechterung ist ausschliesslich auf die Renten der 2. Säule zurückzuführen. In Zahlen sind die kumulierten Renten von AHV und Pensionskasse bei diesen Einkommen in nur vier Jahren um monatlich 600 Franken gesunken (von rund 5‘300 auf rund 4‘700 Franken). Und für die Zukunft sieht es noch schlechter aus.
Das ist zum einen darauf zurückzuführen, dass die Rentenkapitalien wegen der tiefen Verzinsung («dritter Beitragszahler») weit weniger als früher wachsen. Und zum andern auf die sinkenden Umwandlungssätze. Um die Effekte sinkender Umwandlungssätze zu beurteilen, genügt es, sich vor Augen zu halten, welche Kapitalien nötig sind, um ein mit der AHV-Rente vergleichbares Renteneinkommen aus der 2. Säule zu erzielen. Bei einem Umwandlungssatz von 5 Prozent braucht es für eine monatliche Rente von gut 2000 Franken ein Kapital von 500’000 Franken. Für eine Rente von 2‘500 Franken pro Monat ein solches von 600‘000 Franken. Ganz zu schweigen von der Ehepaarrente der AHV von gut 3‘500 Franken. Bei einem Umwandlungssatz von 5 Prozent braucht es in der 2. Säule dafür ein Rentenkapital von rund 840‘000 Franken.
Im Gegensatz zu einer medial gerne verbreiteten Legende ist das nicht der Fehler der heutigen Rentnerinnen und Rentner (auch wenn manche von ihnen mit guten Einkommen und ungebrochener Erwerbskarriere in der Vergangenheit beim Rentenkapital und beim Umwandlungssatz gut gefahren sind). Die Ursache für die ständig schlechteren Renten der 2. Säule sind die Probleme des Kapitaldeckungsverfahrens bei tiefen Zinsen auf den Kapitalmärkten. Wer dies verleugnet und die sinkenden Renten stattdessen pauschal den Älteren in die Schuhe schiebt, betreibt billige Polemik statt einen Beitrag zur Lösung der realen Probleme zu leisten.
Auszugehen ist auch für die Zukunft vom Rentenziel, das in unserer Bundesverfassung verankert ist: Wer erwerbstätig war, soll im Alter von den Renten der AHV und der Pensionskasse anständig leben können. In der Sprache der Verfassung heisst das «Fortsetzung des gewohnten Lebens in angemessener Weise». Dabei sollten sich jene, die von einem Rentenziel sprechen, endlich von einem pauschalen Satz von 60 Prozent des früheren Einkommens verabschieden. Abgesehen davon, dass diese Rechnungsgrösse nirgends gesetzlich verankert ist, kam schon der Dreisäulenbericht des Bundes Mitte der 90er Jahre zum Schluss, dass 60 Prozent für höhere Einkommen genügen mögen. Für tiefere und mittlere Einkommen, und für alle im Bereich des Obligatoriums der 2. Säule, ist ein höherer Wert nötig. Implizit ist das auch den Autoren der erwähnten Swisscanto-Studie nicht entgangen. Für realistischere Werte genügt auch nur schon ein Blick auf die Lebenshaltungskosten in der Schweiz.
Der Schweizerische Gewerkschaftsbund steht hinter dem Rentenziel der Verfassung, das heisst einer ausreichenden Rentenabdeckung im Rentenalter durch die Renten der ersten und der zweiten Säule. Die Aufgabe einer künftigen Rentenreform ist es, dieses Ziel auch für die Jüngeren, also für die heutigen Erwerbstätigen zu erreichen. Dafür muss, in erster Linie für die unteren und mittleren Einkommen, auch das Verhältnis der ersten und zweiten Säule wieder überprüft werden. Denn bei den Renten ist das Preis-/Leistungsverhältnis eine zentrale Frage. Im Verhältnis von erster und zweiter Säule gilt das auch für die Lohnbeiträge. Seit 1975 zahlen wir bei der AHV 8,4 Prozent Lohnbeiträge, je hälftig aufgeteilt auf Arbeitnehmer und Arbeitgeber (kommt die neue Steuer-/AHV-Vorlage durch, werden es 8,7 Prozent sein). Bei den Pensionskassen sind die Beiträge in den letzten Jahren stark gestiegen und betragen heute fast das Doppelte der AHV-Lohnprozente.
Das sind die zentralen Fragen für unser Rentensystem, das in der Bevölkerung gut verankert ist. Daran wird sich auch die künftige Reformdebatte messen müssen.
4. Juni 2018
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Das wahre Rentenproblem
Wer die sinkenden Renten pauschal den Älteren in die Schuhe schiebt, betreibt billige Polemik.