Ich möchte diese Rede mit einem Zitat beginnen:
«Weder nach Rasse, noch nach Sprache, noch nach der Geschichte bilden die Völker der heutigen Eidgenossenschaft ein altherkömmliches Ganzes. Ihr Zusammenschluss beruht auf einem politischen Gedanken von neuerem Datum, ihre Nationalität ist noch heute nur das Werk einer Idee.»
Das Zitat stammt von Carl Hilty, geschrieben hat er diesen Satz 1875.
1875: Das war nur eine Generation nach der Gründung unseres Bundesstaats von 1848. Und wenige Jahre, bevor der Bundesrat das Gründungsdatum der Eidgenossenschaft auf den 1. August 1291 festlegte. – Carl Hilty kam aus dem Werdenberg. Er war Staatsrechtslehrer an der Universität Bern und einer der Vordenker des jungen Bundesstaats. Das Zitat ist eine Schlüsselstelle in Hiltys seinerzeit berühmten «Vorlesungen über die Politik der Eidgenossenschaft».
Der Gedanke, den Carl Hilty vor bald einmal 150 Jahren zum Ausdruck brachte, ist heute so wichtig wie damals. Im 19. Jahrhundert war in Europa, rund um die Schweiz herum, die Bildung ethnisch und sprachlich homogener Nationalstaaten im Gange. Die herkunftsmässig, sprachlich und religiös vielgestaltige Schweiz hätte damals in dieser Logik der Einheitlichkeit keine Existenzberechtigung gehabt. Deshalb war es entscheidend, dieser Vorstellung, dass eine Nation aus ethnisch homogenen Menschen mit gleicher Sprache und Kultur besteht, eine politisch formulierte Staatsidee entgegenzustellen: Die Verpflichtung auf gemeinsame Werte anstelle gleicher Herkunft, Sprache oder Kultur. Diese Idee des jungen Bundesstaats ist, unter veränderten Bedingungen, heute noch wichtiger geworden. Ich komme darauf zurück.
Was war mit dem Rheintal, bevor es die moderne Schweiz gab? Was mit weiten Teilen des heutigen Kantons St.Gallen? Unser zusammengewürfelter Kanton St.Gallen ist ein sogenannter Mediationskanton. In seinen heutigen Grenzen wurde er 1803 in Paris festgelegt. Gleichzeitig mit dem Aargau, dem Thurgau, dem Tessin, Graubünden und der Waadt. Also weiten Teilen der heutigen Schweiz.
In den Jahrhunderten davor, zur Zeit der alten Eidgenossenschaft, gehörte das Rheintal zu den Untertanengebieten der Alten Orte. Es waren die Ideen der Aufklärung, die Erklärung der Menschenrechte und die Französische Revolution, die diese Herrschaftsverhältnisse hinwegfegten. Die Landvögte der Alten Orte nahmen unter dem Jubel der Bevölkerung Reissaus. Sie hatten vorher in den Untertanengebieten während Jahrhunderten den Leuten das Geld aus der Tasche gezogen. Auch hier im Rheintal.
Dass die Menschen von Natur aus gleich sind und alle Menschen Rechte haben: Das war ein Postulat der Aufklärung. Die Proklamation der Menschenrechte aller war eine Idee von einer solchen Kraft und Wucht, dass die überkommenen Herrschaftsverhältnisse, die jahrhundertealten Untertanenverhältnisse, dagegen keine Chance mehr hatten. Wie damals die Herrschaftsverhältnisse im Rheintal in kurzer Zeit umgestürzt wurden, kann in der immer noch lesenswerten Denkschrift des Bernecker Johannes Dierauer über die „Befreiung des Rheintals“ nachgelesen werden.
Als die Mächte der alten Ordnung am Wiener Kongress von 1815 das Rad der Zeit zurückzudrehen begannen und die Restauration beschlossen, wurde die Schweiz als Sonderfall behandelt: Die Alten Orte der Eidgenossenschaft – und auch der Fürstabt von St.Gallen - bekamen ihre Untertanengebiete nicht mehr zurück. So sehr sie auch darauf drückten. Die europäischen Mächte wollten stabile Verhältnisse im Herzen Europas. Das vertrug sich nicht mit einer Rückkehr zur alten Ordnung in der Schweiz.
Die Helvetik war die erste Schweizer Staatsordnung nach der Abschaffung der Untertanenverhältnisse. Als Einheitsstaat hatte die Helvetik viele Mängel. Aber: Für das Rheintal wie für grosse Teile der heutigen Schweiz bedeutete die Helvetik die Befreiung und das Ende der Untertanenverhältnisse. Interessant ist, dass die Helvetik zusammen mit der Befreiung und der Proklamation der Menschenrechte auch die Schulpflicht für Knaben und Mädchen einführte. Die allgemeine Volksschulbildung als unverzichtbare Grundlage des Staatswesens. Der Name des Lehrers und Aufklärers Johann Heinrich Pestalozzi steht bis heute symbolhaft dafür.
Die moderne Schweiz begann also richtig besehen nicht erst mit dem Bundesstaat von 1848. Aber alles vor 1848 war instabil, prekär und nicht gesichert.
1848 kam es quer durch Europa zu revolutionären Bewegungen für die Demokratie. Einzig in der Schweiz aber war diese Bewegung nachhaltig erfolgreich. Mit der Verfassung von 1848 bekam die moderne Schweiz ihre solide und bis heute gültige Grundlage.
Die Basis des modernen Bundesstaats waren die Menschenrechte, die Anerkennung der Rechtsgleichheit. Die Erklärung, dass es keine «Vorrechte des Orts, der Geburt, der Familien oder der Personen» mehr gibt. - Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass es für die Hälfte der Bevölkerung, für die Frauen, bis zur Realisierung der vollen Rechte – also auch der politischen Rechte – noch weit über hundert Jahre dauern sollte. Wichtig aber war, dass das Gleichheitsversprechen für alle ein für alle Mal in der Verfassung verankert war.
Bei der Gründung des Bundesstaats von 1848 lag der machtpolitisch entscheidende Ausgangspunkt im Kanton St.Gallen. Es war die Landsgemeinde von Schänis vom 2. Mai 1847, die die Mehrheitsverhältnisse zuerst im St.Galler Grossen Rat und danach in der Tagsatzung kippte. Das katholische Gaster wählte für einmal liberal. Diese unerwartete Bewegung erst ermöglichte die Auflösung des katholischen Sonderbunds mit militärischen Mitteln und als Folge davon die Gründung des Bundesstaats. St.Gallen wurde damit zum Schicksalskanton auf dem Weg zur modernen Schweiz.
Das Rheintal war für die Entwicklung demokratischer Rechte in der Schweiz in einem weiteren Sinne entscheidend. Wenn auch auf eine etwas rauhe Art. 1831 marschierten nämlich 600 Altstätter Bauern am sogenannten Stecklidonnerstag im St.Galler Klosterhof auf. Worauf der Grosse Rat der Einführung des sogenannten Volks-Vetos zustimmte. Das war eine direkt-demokratische Pionierleistung. So etwas gab es vorher nirgendwo. Die St.Galler Pionierleistung des Volks-Vetos war nichts anderes als der Vorläufer des späteren Volksreferendums. Und somit ein Meilenstein bei der Entwicklung direkt-demokratischer Rechte.
Der moderne Bundesstaat war nicht nur politisch eine grosse Leistung. Der leistungsfähige Bundesstaat war auch ausschlaggebend dafür, dass die Schweiz als eine der am frühesten industrialisierten Regionen Europas zu einem wirtschaftlich erfolgreichen Land wurde. Bei damals allerdings noch gewaltigen wirtschaftlichen und sozialen Gegensätzen. Erst der Aufbau des Sozialstaats sorgte im 20. Jahrhundert nach und nach für einen gewissen Ausgleich.
Wo stehen wir heute? Wenn wir die Schweizer Staatsidee als Massstab nehmen?
Im grossen Ganzen funktioniert unser Bundesstaat auch nach mehr als 150 Jahren nicht schlecht. Mit dem Zweikammersystem, das die Schweiz nach dem Vorbild der amerikanischen Verfassung eingerichtet hat. Mit der Gewaltenteilung. Und der gebrochenen Regierungsmacht durch einen siebenköpfigen Bundesrat, zusammengesetzt aus Vertretungen von vier Parteien. Das schweizerische System der Vielstimmigkeit und der gebrochenen Macht hat grosse Vorteile. Das System selbst sorgt für einen gewissen Ausgleich der Interessen und verhindert grössere Dummheiten und den Machtmissbrauch durch Einzelne. Und zusammen mit den Volksrechten für permanente kollektive Lernprozesse.
Umsicht und Vorsicht braucht es allerdings im Umgang mit der Sprachenfrage. Ohne zwingenden Anlass ist sie in letzter Zeit plötzlich wieder akuter geworden. Ich erinnere an das Zitat von Carl Hilty: Die moderne Schweiz ist ein sprachlich und kulturell vielgestaltiges Land. Diese Vielfalt gehört zur Identität und zum Reichtum der Schweiz. Man könnte es auch anders formulieren: Eigentlich besteht die Schweiz, auch die deutschsprachige Schweiz, aus lauter Minderheiten. Das Rheintal ist auch ein Beispiel dafür: Das Rheintal selber ist voll von Gegensätzen und Unterschieden. Minderheiten sind aber auf gegenseitige Rücksichtnahme angewiesen. Für sprachliche Minderheiten gilt das ganz besonders. Belgien ist ein Beispiel dafür, was passieren kann, wenn die gegenseitige Rücksichtnahme fehlt. Dafür müssen wir unser Bewusstsein wieder schärfen. Im Sinne der schweizerischen Staatsidee.
Neue Risiken für die Schweiz entstehen plötzlich auch dadurch, dass politische einflussreiche Kräfte die Bedeutung der Menschenrechte nicht mehr sehen oder nicht mehr sehen wollen. Und nationale Paragraphen höher als die Menschenrechte einstufen möchten. - Wenn die Menschenrechte Autokraten wie Putin in Russland oder Erdogan in der Türkei stören, dann kann das niemanden verwundern. Wenn der Stellenwert der Menschenrechte aber auch in der Schweiz in Zweifel gezogen wird, dann müssen wir in Erinnerung rufen, welche zentrale Bedeutung die Menschenrechte in der Menschheitsentwicklung der letzten Jahrhunderte hatten. Denn es sind die Menschenrechte und der Rechtsstaat, die uns alle vor Machtmissbrauch und Willkür schützen.
Die Menschenrechte waren die wichtigste positive Errungenschaft seit der Aufklärung. Zu den führenden Köpfen der Aufklärung gehörten Schweizer wie Jean Jacques Rousseau. Die entscheidende Weiterentwicklung erfuhren die Menschenrechte nach den Verheerungen der Nazi-Zeit durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 und die Europäische Menschenrechtskonvention. Die neuen Menschenrechtserklärungen nach dem 2. Weltkrieg waren die Antwort auf den unvorstellbaren Zivilisationsbruch mitten in Europa, der auch für die Schweiz existenzbedrohend war. Die Schweiz muss Teil der Völkergemeinschaft bleiben, für welche die Menschenrechte zum unverzichtbaren Kernbestand der Rechte aller gehören.
Auch beim Bürgerrecht stellen sich für die Zukunft der Schweiz wichtige Fragen. Wirtschaftlich, aber auch gesellschaftlich, ist die Schweiz bei der Integration unserer vielfältigen Bevölkerung über alles gesehen sehr erfolgreich. Gerade auch im internationalen Vergleich. Politisch aber hinken wir der erfolgreichen wirtschaftlichen Entwicklung und der gesellschaftlichen Realität in diesem Bereich hinterher. Sogar der Fussball ist der Politik hier weit voraus, wenn wir an Zusammensetzung unserer Mannschaften denken, angefangen bei der Nationalmannschaft. Im wirtschaftlichen Leben und im gesellschaftlichen Alltag gilt: Wer hier aufwächst, wer hier geboren wurde, gehört zu uns. Das müsste auch für die Einbürgerungspraxis selbstverständlich werden. Im Sinne der schweizerischen Staatsidee. Das war auch die Praxis im jungen Bundesstaat.
Und gerade am Nationalfeiertag sollten wir uns daran erinnern, dass zum nationalen Zusammenhalt auch der soziale Zusammenhalt gehört. Dazu gehören die Werte der Solidarität.
Die grösste innenpolitische Errungenschaft des 20. Jahrhunderts war die Schaffung der AHV. Es brauchte Jahrzehnte dafür. 1947 wurde sie bei einer nie mehr erreichten Stimmbeteiligung von 80% mit 80% Ja-Stimmen in der Volksabstimmung angenommen. Wie keine andere schweizerische Institution steht die AHV zugleich für den sozialen Ausgleich wie für den Ausgleich zwischen den Generationen.
Diesen Solidaritätsgedanken müssen wir gegenüber einem seit einiger Zeit grassierenden Egoismus stärken. Denn es gibt Entwicklungen, die schwer zu denken geben müssen. Seit ein paar Jahren bin ich immer wieder mit Anrufen, Mails und Briefen konfrontiert, in denen mir ältere Arbeiter und Angestellte schildern, wie sie nach Jahrzehnten engagierter Arbeit in ihrem Betrieb ohne nachvollziehbaren Anlass plötzlich die Kündigung bekommen haben. Bedenklich viele dieser Meldungen stammen aus dem Rheintal. Für die Betroffenen ist das eine soziale Katastrophe. In diesem Alter haben sie oft keine ernsthaften Chancen mehr auf dem Arbeitsmarkt. Wer in diesem Alter den Job verliert, fliegt auch aus der Pensionskasse. Und verliert damit den Anspruch auf die Pensionskassenrente nach der Pensionierung. Kein Freizügigkeitskapital kann die Rente ersetzen.
Es ist noch nicht lange her, da gab es so etwas wie ein ungeschriebenes Gesetz, dass man in den Jahren vor der Pensionierung nicht entlassen wurde, sofern es nicht zwingende wirtschaftliche oder andere Gründe für eine Kündigung gab. Dieses Tabu ist gefallen. Was das für die Betroffenen, ihre Familien und ihre Bekannten heisst, ist kaum vorstellbar. Und wie es das soziale Klima vergiftet. Auch wenn sich, auch das stimmt, die meisten Arbeitgeber zum Glück nach wie vor anders verhalten.
Wenn wir heute am 1. August den Nationalfeiertag begehen, dann müssen wir uns auf die Werte besinnen, welche die Schweiz zusammenhalten. Denn wir leben in einer Zeit, in der sich negative Entwicklungen und Katastrophenmeldungen wie gerade in diesen Wochen Schlag auf Schlag folgen. Und weil wir, wie noch nie zuvor, weltweit vernetzt sind, bekommen wir das auch noch in Echtzeit mit. All das sorgt für massive Verunsicherungen.
Umso mehr kommt es darauf an, an welchen Ideen und Werten wir uns orientieren. Die Welt, und damit die Schweiz, verändert sich zurzeit wie vielleicht noch nie zuvor. Technologisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich.
Die Staatsidee im Sinne des Zitats von Carl Hilty aus dem 19. Jahrhundert ist für die Schweiz auch unter diesen veränderten Verhältnissen der einzig gangbare Weg. Die Idee einer Schweiz, die vielfältig ist und durch gemeinsame Werte zusammengehalten wird. Vielfalt ist eine Stärke, nicht eine Schwäche. Heute noch mehr als im 19. Jahrhundert.
Wir, die wir heute leben und politisch bestimmen, werden daran gemessen werden, welche Antworten wir auf die Herausforderungen der Zukunft finden. Sind es Antworten, die die Gesellschaft zusammenhalten, oder solche, die sie spalten? Und sind es Antworten, die den Jüngeren wie den Älteren, aber insbesondere auch den kommenden Generationen Perspektiven eröffnen? Tauglich für unsere Zukunft sind nur jene Werte und Ideen, die die Menschen in unserem Land einbeziehen und nicht ausschliessen.
Die Schweiz, und als Teil davon das Rheintal, ist ein vielfältiges und wirtschaftlich wie gesellschaftlich spannendes Labor der Veränderung. Wenn wir beispielsweise an das enorme industrielle Potenzial dieser Region auch unter schwierigen Bedingungen denken.
Es war der Bernecker Johannes Dierauer, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts zusammen mit ein paar anderen Historikern die Bedeutung des Bundesbriefs in den Vordergrund gerückt hat. Und dadurch den Bundesrat veranlassen konnte, mit der 600-Jahr-Feier vor 125 Jahren das Gründungsdatum der Eidgenossenschaft auf den 1. August 1291 festzulegen.
Der Bezug auf den Bundesbrief ist aber im Grunde nichts anderes als der Bezug auf ein frühes Stück Solidarität. Mit der schweizerischen Staatsidee, die ihre Stärke aus der Vielfalt bezieht, weist diese Erinnerung in die Zukunft.
Ich wünsche Ihnen einen schönen 1. August.
Für die Hintergründe zur Revolution im Rheintal bedanke ich mich beim St.Galler Historiker Max Lemmenmeier, für das wegweisende Hilty-Zitat beim Nationalismus-Experten Bruno Schoch.