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26. November 2015

Blog

Erschreckende Zustände

Beim Durchkämmen der liegengebliebenen Post habe ich zwei Publikationen vorgefunden, die wichtige historische Einblicke eröffnen.

Bitzi


Die Historikerin Sybille Knecht legt in einer neuen Veröffentlichung des Staatsarchivs St.Gallen eine starke Studie zu den Zwangsversorgungen im Kanton St.Gallen vor («Administrative Anstaltseinweisungen im Kanton St.Gallen 1872-1971», herausgegeben vom Staatsarchiv des Kantons St.Gallen 2015). Sie belegt erschreckende Zustände, die noch gar nicht lange zurückliegen. Menschen mit einem von der Norm abweichenden Lebenswandel wurden in Anstalten eingesperrt, auch wenn sie kein Delikt begangen hatten.
Ein Beispiel war der 19-jährige Thomas A., der als Schlagzeuger einer Jazzband davon träumte, Musiker zu werden, statt einer «normalen» Arbeit nachzugehen. Der Gemeinderat Rapperswil liess ihn 1963 kurzerhand für mindestens ein Jahr in eine Arbeitserziehungsanstalt einweisen.
Betroffen von den Zwangseinweisungen waren vor allem Angehörige der sozialen Unterschicht. Bei Verlust der Arbeitsstelle waren sie «potenziell von der Zwangsversorgung bedroht». Bei Frauen ging es häufig auch um «ein nicht den Normvorstellungen entsprechendes Sexualverhalten». Die in der Studie aufgezeichneten Fallbeispiele eröffnen Einblicke in gesellschaftliche Abgründe.
Gut dokumentiert werden in der Studie die Zustände in der kantonalen «Zwangsarbeitsanstalt» Bitzi in Mosnang. Beobachter stellten fest, dass die Nutztiere besser gehalten wurden als die «detinierten» Menschen. Drakonische Strafen bei Widersetzlichkeit oder Flucht waren die Regel. So noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Tragen eines Halsrings mit Horn als besonders brutale Form der Züchtigung. Bei leichteren Vergehen sah die vom Regierungsrat genehmigte Hausordnung unter anderem die Isolierung, das Redeverbot und die Pflicht zum Tragen spezieller Sträflingskleider vor.
Die historische Aufarbeitung gehört zu den Folgen des Rehabilitierungsgesetzes für administrativ Versorgte, das im Parlament auf meine Initiative hin erlassen wurde. Die sorgfältige Studie von Sybille Knecht zeigt, was zum Vorschein kommt, wenn die Sozialgeschichte unserer Region aufgearbeitet wird. Sie zeigt erneut eindrücklich, wie dringend das Entschädigungsgesetz für die heute noch lebenden Betroffenen ist. Die Vorlage wird dank einer Volksinitiative jetzt ausgearbeitet. Sie muss auch im Parlament eine Mehrheit bekommen.

Die zweite Studie, auf die ich an dieser Stelle hinweisen möchte, ist eine Publikation der Gewerkschaft Unia zum grossen Bauarbeiterstreik von 2002. Damals wurde das Rentenalter 60 auf dem Bau erkämpft («Rentenalter 60 auf dem Bau: Wie es dazu kam», Bern, Oktober 2015). Es war der erste grosse Branchenstreik seit mehr als fünfzig Jahren. Er führte zum grössten sozialpolitischen Fortschritt in einer Branche seit Jahrzehnten, der heute im aktuellen Vertragskonflikt im Bau wieder verteidigt werden muss. Die Publikation beschreibt die Erfolgsfaktoren. Eine gut begründete Forderung ist die Voraussetzung, genügt aber nicht. Es braucht für die Realisierung eine breite Bewegung und eine entschlossene Führung. Spannend zu lesen sind vor allem die Gespräche des Historikers Stefan Keller mit Vertrauensleuten der damaligen Bewegung. Und mit Roman Burger und Vasco Pedrina über die spektakuläre Aktion am Baregg. Sie war ein Meilenstein in der Schweizer Streikgeschichte.