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19. April 2019

Blog

Es braucht einen Kompass für die Schweiz in Europa

Eine offene und soziale Linke muss den Lohnschutz verteidigen. Dies mit Blick auf, aber gerade auch für Europa.



Wir leben in unübersichtlichen Zeiten. Stichwort Brexit-Chaos: Cameron verzockt sich als Premier im innerparteilichen Machtspiel und setzt das Schicksal einer ganzen Nation aufs Spiel. Verantwortungslosigkeit, Fehlkalkulationen und zufällige Konstellationen spielen eine schicksalhafte Rolle. Die Vorgänge in Grossbritannien sind exemplarisch: Verwirrung herrscht nicht nur auf der rechten Seite, sondern auch in Teilen der Linken. 

Oder der Aufstieg nationalistischer und fremdenfeindlicher Kräfte in Osteuropa und Italien. Die Implosion des traditionellen Parteiensystems in Italien, aber auch in Frankreich. Und die noch grössere Krise der einst starken Linken, in Italien, in Frankreich. Und der elektorale Abstieg der SPD.


Auf den ersten Blick steht die Schweiz ausserhalb dieser besorgniserregenden Entwicklungen. Aber nur auf den ersten Blick. Wer genauer hinschaut, erkennt viele Symptome dieser Krise auch bei uns. Gerade in der jüngsten Diskussion zum Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union. Auch hier lautet der Befund: Orientierungslosigkeit und kurzfristig orientierte Entscheidprozesse mit langfristigen Folgen, die den Horizont der Akteure weit übersteigen. Verbunden mit einer Krise der Urteilskraft. 

 

Die rote Linie Lohnschutz


Fassen wir die jüngste Entwicklung zusammen: Mit den bilateralen Verträgen wurde auf Druck der Gewerkschaften ein für die Schweiz neuer nichtdiskriminierender Lohnschutz eingeführt. Entsprechend versprachen Bundesrat und Parlament im Jahr 2000, anlässlich der wegweisenden Volksabstimmung über die bilateralen Verträge, den umfassenden Schutz der Löhne. Bei den folgenden Abstimmungen über die bilateralen Verträge und ihre Erweiterung wurde dieses Versprechen immer wieder erneuert. Das war auch der Grund dafür, dass der Bundesrat 2013 bei der Eröffnung der Verhandlungen über ein Rahmenabkommen den Lohnschutz auf Druck der Gewerkschaften als rote Linie definierte.


Heute ist nichts mehr so, wie es noch vor einem Jahr war. Zwar ist die rote Linie des Bundesrates bis heute in Kraft. Aber der Chefunterhändler der Schweiz übernahm am 7. Juni 2018 die Position der EU-Kommission und eröffnete in der Schweiz – innenpolitisch – den Kampf gegen wichtige Teile des heutigen schweizerischen Lohnschutzes. Gefolgt von den beiden freisinnigen Bundesräten in den federführenden Departementen. Und begleitet von einer massiven, breit orchestrierten und bis heute anhaltenden Medienkampagne. Mit dem durchsichtigen Ziel, die Linke in dieser zentralen Frage zu spalten. Das Kalkül des Unterhändlers war, mit der Übernahme der EU-Position beim Lohnschutz eine Konzession bei der Unionsbürgerrichtlinie zu erreichen, dem Hauptkritikpunkt der Rechten. Eine kapitale Fehlkalkulation.

Die gute Nachricht zu diesem jüngsten Kapitel Schweizer Geschichte lautet, dass der Chefunterhändler zusammen mit den freisinnigen Bundesräten immer wieder aufgelaufen ist, als sie im Bundesrat die rote Linie aufbrechen wollten (im Juli, im September und Dezember des letzten Jahres). Die rote Linie ist nicht gefallen. Die Gewerkschaften stehen geschlossen hinter der Referendumsdrohung gegen eine Verschlechterung des Lohnschutzes. Der Lohnschutz ist gesetzlich verankert, weshalb gegen einen Abbau das Referendum möglich ist.

 

Der Bundesrat agiert orientierungslos


Die schlechte Nachricht für diese schwierige Phase lautet, dass die Mehrheit des Bundesrates seit den Angriffen auf den Lohnschutz im letzten Juni fast unsichtbar blieb. Und der Chefunterhändler mit den beiden FDP-Bundesräten im Schlepptau die Kampagne für den Rahmenvertrag unter Preisgabe des Lohnschutzes einfach fortführen konnte. Bis heute.  


Man muss sich das nochmals vergegenwärtigen: Der Staatssekretär vertritt als Chefunterhändler nicht mehr die rote Linie der Regierung, sondern übernimmt die Position der EU-Kommission, dass die Schweiz den Lohnschutz herunterfahren muss, und führt dafür zusammen mit dem Aussen- und dem Wirtschaftsminister eine massive öffentliche Kampagne. Der Bundesrat lehnt es ab, die rote Linie Lohnschutz preiszugeben, lässt den ihm unterstellten Staatssekretär aber einfach gewähren. Öffentlich sind es fast nur die Gewerkschaften, die den schweizerischen Lohnschutz verteidigen. 

Was heisst das? In der Funktion ist das eine Verkehrung der Verhältnisse zwischen unten und oben, zwischen Regierung und dem ihr unterstellten Beamten. Aber gleichzeitig eine präzedenzlose Schwäche der Regierung in einem zentralen Dossier für die Zukunft der Schweiz.

Es gab auch in der Vergangenheit Phasen einer schwachen Regierung und einer starken Verwaltung. Aber wir leben nicht in normalen Zeiten. In Zeiten, in denen wichtige Entscheidungen anstehen, ist ein solches Machtvakuum hochgefährlich. Nicht nur, weil es dazu führt, dass ein politisch nicht legitimierter Staatssekretär mit antigewerkschaftlichen Affekten in diesem zentralen Dossier voll gegen die politisch definierte und vorgegebene Linie agiert.

Sondern vor allem, weil die offizielle Schweiz akute Gefahr läuft, im EU-Dossier gegen die Wand zu fahren. Weil sie gegenüber der realen Agenda blind ist.

Eine Annahme der SVP-Initiative bedeutete den Schweizer Brexit


Denn es geht im Verhältnis zur EU vorerst nicht um das Rahmenabkommen, wie es dann immer auch aussehen mag. Die nächste, schon in einem Jahr bevorstehende Volksabstimmung ist jene über die Initiative der SVP zur Kündigung der Personenfreizügigkeit. Kommt die Kündigungsinitiative durch, dann sind die bilateralen Verträge erledigt. Diskussionen über die Weiterentwicklung des Verhältnisses zur EU, zum Beispiel über den Rahmenvertrag, kann man sich dann schenken.

Wie aber soll die Volksabstimmung über die Personenfreizügigkeit gewonnen werden, wenn der Lohnschutz in Frage gestellt wird? Es ist nichts Neues, dass die Wirtschaftsverbände und die FDP an den flankierenden Massnahmen noch nie Freude hatten. Und dass es ihnen nur so recht wäre, wenn der Lohnschutz via Verträge mit der EU geschwächt würde. Aber neueren Datums ist es, dass sie die Folgen dieser Haltung für die Fortsetzung der Personenfreizügigkeit nicht mehr wahrhaben wollen. Sie haben vergessen, dass der glaubwürdige und wirksame Schutz der Löhne die Volksmehrheiten für die Bilateralen erst möglich gemacht hat. Und sie haben nichts gelernt aus der Abstimmungsniederlage zur Masseneinwanderungsinitiative der SVP vom 9. Februar 2014. Nach dem Ja zu dieser Initiative, die Einwanderungskontingente forderte, waren die Bilateralen eigentlich am Ende. 

Das Ende der Bilateralen konnte vor zwei Jahren nur mit knappster Not abgewendet werden. Mit dem sogenannten Arbeitslosenvorrang, gegen den kein Referendum ergriffen wurde. Diesen Ausweg gibt es nicht mehr, wenn die Kündigungsinitiative der SVP angenommen wird. Diese verlangt klipp und klar das Ende der Personenfreizügigkeit. Dann haben wir den schweizerischen Brexit. Mit allen verheerenden Folgen. In kaum einem Jahr geht es im Verhältnis zur EU also um alles oder nichts.


Zwischen Isolationismus und Offenheit


Gerade weil die Verwirrung auch Teile der parteipolitischen Linken erfasst hat, lohnt es sich, das heikle Feld neu auszuloten. Denn wer in unübersichtlichen Zeiten bestehen will, braucht einen zuverlässigen Kompass. Erst recht in solchen Zeiten ist es wichtig, die grösseren Zusammenhänge zu sehen. 

Werfen wir deshalb über einen etwas grösseren Zeitraum hinweg einen Blick auf die Schweiz und Europa.

Nützlich ist dabei eine Vorstellung davon, wie stark die Schweiz im Lauf der letzten Jahrhunderte im Verhältnis zu Europa und der Welt immer wieder oszilliert hat zwischen Isolationismus und Selbstgerechtigkeit auf der einen Seite und Internationalismus und Offenheit auf der anderen, um eine Formulierung des Historikers Herbert Lüthy aufzunehmen. Das galt nicht nur im 19. Jahrhundert. Krass waren die Gegensätze auch im 20. Jahrhundert, wie Lüthy im brillanten Aufsatz «La Suisse des deux après-guerres» aufgezeigt hat: Die diametral entgegengesetzten Reaktionen der Schweiz auf das Kriegsende nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg. Konkret Offenheit und Internationalismus nach dem Ersten Weltkrieg, ein Beispiel dafür ist etwa die Gründung der Internationalen Arbeitsorganisation 1919 in Genf; dagegen Abschliessung und Abschottung nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Ablehnung der Beteiligung am europäischen Einigungsprozess und schliesslich das Nein zum EWR 1992, verbunden mit einer mythischen Überhöhung der Schweiz des Alleingangs, waren nichts anderes als Spätfolgen dieses Zyklus der Abschliessung nach dem Zweiten Weltkrieg.

Vor dem Hintergrund des schweizerischen Sonderwegs der Abschliessung seit dem Zweiten Weltkrieg waren die Zustimmung zu den bilateralen Verträgen im Jahr 2000 und der UNO-Beitritt 2002 grosse Öffnungsschritte. Mit Blick auf die praktischen Folgen galt dies vor allem für die Bilateralen mit dem Herzstück der Personenfreizügigkeit: Lebensweltlich und auf dem Arbeitsmarkt war das die grösstmögliche Öffnung seit langer Zeit. Die Schweiz wurde bei der Bewegungsfreiheit der Menschen wieder ein Teil Europas. Zum ersten Mal seit 1914.

Für die Schweiz folgten über alles gesehen sehr dynamische Jahre. Trotz des politischen Aufstiegs der SVP ist die Schweiz in diesen bald 20 Jahren viel internationaler, bunter, offener geworden. Und dank einem starken Lohnschutz, verbunden mit gewerkschaftlichen Lohnkampagnen, ist es gleichzeitig gelungen, die Löhne zu halten und gerade in den Tieflohnbereichen zu verbessern – im Gegensatz zu einem negativen internationalen Trend. Dies dank einem wirksamen Schutz der Löhne im Rahmen der flankierenden Massnahmen und den grossen Erfolgen der beiden Mindestlohnkampagnen «Keine Löhne unter 3000 Franken», gefolgt kaum zehn Jahre später von der Kampagne «Keine Löhne unter 4000 Franken».


Das zur jüngeren Entwicklung in der Schweiz. 

EU-Projekt: Fatale Auswirkungen der Krise


Es fällt demgegenüber nicht leicht, die EU und ihre Entwicklung in den letzten Jahrzehnten in wenigen Strichen zu zeichnen. Denn das EU-Projekt ist, wenn wir Kiran Klaus Patels neuer kritischer Geschichte Europas folgen, voll von «weitreichenden Hoffnungen, unintendierten Konsequenzen, zunächst beinahe unsichtbaren Neuanfängen und langsamen Umorientierungen». Das EU-Projekt hatte einen starken Fokus auf dem Ökonomischen, im Guten wie im Schlechten. Geprägt wurde es aber immer auch von den grossen politischen Zeittrends. Bemerkenswert ist, dass die EU durch Krisen und an Krisen wuchs. Die EU entwickelte, wie Kiran Klaus Patel sagt, eine zunehmende Resilienz, das heisst die Fähigkeit, «Veränderungen nicht mehr bloss abwehren, sondern vielmehr für sich produktiv verarbeiten» zu können . All das zeigt in Patels Analyse nicht nur viele widersprüchliche Entwicklungen, sondern verweist auch auf eine grosse Offenheit, wohin die Entwicklung die EU in Zukunft führen wird. 

Ein Blick zurück im Zeitraffer zeigt jedenfalls, wie stark sich die Verhältnisse in wenigen Jahrzehnten verändert haben, immer gegen jede Wahrscheinlichkeit aus seinerzeitiger Perspektive und oft ausserhalb des Vorstellungsvermögens. Wer hätte sich in den 1980er-Jahren vorstellen können, dass aus der EU-12 in kaum fünfzehn Jahren eine EU-28 würde?

Was andererseits in den letzten zehn Jahren passiert ist, hat Timothy Garton Ash in einem drastischen Bild gezeichnet. Er schlug letztes Jahr als Gedankenexperiment vor, sich vorzustellen, jemand hätte sich im Jahr 2005 einfrieren lassen. Damals herrschte in Europa nach der EU-Osterweiterung ein grosser Fortschrittsoptimismus. Wenn dieser Eingefrorene aus dem Jahre 2005 jetzt wieder zum Leben erweckt würde, in einer Zeit grassierender nationalistischer und fremdenfeindlicher Tendenzen, einer Zeit zudem, in der das EU-Projekt in vielen Ländern als Projekt der sozialen Kälte und des Sozialabbaus wahrgenommen wurde, so würde dieser Mensch aus dem fortschrittsoptimistischen Jahr 2005 Europa kaum wiedererkennen. 

Fatale Auswirkungen hatte im Rückblick die Megakrise des Finanzsektors von 2008. Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze zeichnet in seiner grossen Studie «Crashed» nach, welche katastrophalen Folgen die grosse Bankenkrise in Europa hatte. Das als Folge der europäischen Wirtschaftspolitik. Im bemerkenswerten Gegensatz ausgerechnet zur Politik des IWF und der USA wurde die Bankenkrise in Europa zur Staatsschuldenkrise umdefiniert. Das diente als Hebel für eine knallharte Austeritätspolitik: Sozialabbau verbunden mit einem Angriff auf kollektive Errungenschaften wie arbeitsrechtliche Standards und Gewerkschaftsrechte. Obwohl das mit den Ursachen der Krise im Finanzsektor nichts zu tun hatte, im Gegenteil. Die über die Eurozone aufoktroyierte Austeritätspolitik hatte für grosse Teile der jüngeren Generationen in Südeuropa schwerwiegende Folgen, mit unabsehbaren Langzeitwirkungen. – Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs mit der Priorisierung der Marktfreiheiten der Unternehmen gegenüber dem Schutz der Löhne der arbeitenden Menschen waren auch Ausdruck der negativen neoliberalen Entwicklung dieser Jahre.

Adam Tooze kommt zum Schluss, dass die Wirtschaftspolitik Europas in der Folge der Bankenrettung, von der Austerität und den Arbeitsmarktreformen nach deutschem Muster bis hin zum dekretierten Sozialabbau mit Rentenalter 67 nichts anderes war als politische Ökonomie mit dem Akzent auf dem Politischen der Ökonomie. Ausschlaggebend waren die politischen Vorstellungen jener, die das Sagen hatten, von Schäuble bis Merkel. Begleitet von einer grossen Schwäche der europäischen Linken, die dem nichts entgegenzusetzen hatte. Oder noch schlimmer, die diese Politik durch einen Teil ihrer politischen ExponentInnen gar aktiv mitgetragen und mitvertreten hatte.

Entscheidend ist eine gewerkschaftliche Linke


Mit einer stärkeren und einer anders orientierten Linken hätte es allerdings immer auch Möglichkeiten für eine andere, eine positivere europäische Entwicklung gegeben. Zum Beispiel dann, wenn der Vorschlag des damaligen ungarischen EU-Kommissars Lazlo Andor für eine europäische Arbeitslosenversicherung durchgekommen wäre. Diese hätte einen einen europäisch finanzierten Sockel der Arbeitslosenversicherung von sechs Monaten beinhaltet, der dann durch die Staaten ergänzt worden wäre. Das wäre ein greifbarer sozialer Fortschritt auf europäischer Ebene gewesen, abgesehen von der makroökonomischen Bedeutung einer starken Arbeitslosenversicherung als Stabilisator in der Krise. Und ein Stück handfeste soziale Sicherheit, europäisch vermittelt. 

Was bedeutet das nun alles für die heutigen und die kommenden Auseinandersetzungen?

Eine starke Linke ist für die Zukunft Europas und für die Zukunft der Schweiz in Europa von entscheidender Bedeutung. Diesen Namen verdient sie jedoch nur, wenn sich die Linke als vielfältige, international und europäisch ausgerichtete und zudem sozial orientierte Bewegung versteht. Für eine stabile soziale Orientierung der Linken sorgt die Verbindung mit den Gewerkschaften. Dort, wo sich die Linke von den Gewerkschaften abgekoppelt oder in den entscheidenden Fragen des Arbeitsmarkts und des Sozialstaats sogar eine antigewerkschaftliche Politik betrieben oder mitgetragen hat, hat das regelmässig zum Abstieg der linken Parteien geführt. Die sozialdemokratischen Regierungen des sogenannten dritten Wegs sind Beispiele dafür. Sie tragen nicht nur eine grosse Verantwortung für die Zerstörung sozialer Errungenschaften. Sondern auch für die Selbstzerstörung der von ihnen geführten Parteien.

Warum sind die Gewerkschaften für die soziale Orientierung derart wichtig? Die Aufgabe der Gewerkschaften besteht in der Verteidigung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der arbeitenden Menschen. Und sie haben den Kernauftrag, für sozialen Fortschritt zu sorgen.

Öffnung ist kein Selbstzweck


Damit ist die Schlüsselrolle der gewerkschaftlich orientierten Linken für die heutigen und die kommenden Auseinandersetzungen im Verhältnis der Schweiz zu Europa bezeichnet. Nur einer gewerkschaftlich orientierten Linken kann es gelingen, die internationale, öffnungsorientierte Perspektive mit den Interessen der arbeitenden Menschen zu verbinden. 

Wer nur nationalstaatlich denkt, denkt kurzsichtig. Eine linke Perspektive verfehlt aber ebenso sehr, wer alle Fragestellungen auf jene der Öffnung verflacht. Wenn Öffnung heisst, dass öffentliche Dienste und Dienstleistungen durch Liberalisierungsanforderungen unzulässig werden, dann sind diese Regelungen negativ. Dann müssen sie aus einer sozialen Perspektive bekämpft werden. 

Sozialversicherungen setzen wie der Service Public Staatlichkeit voraus. Als Sozialstaat ist der Nationalstaat eine positive Errungenschaft. Sofern er territorial integriert und nicht nach nationaler Herkunft ausschliesst.

Und es ist nichts anderes als eine von rechts aussen gepflegte Legende, dass sich ein ausgebauter, starker Sozialstaat mit wirtschaftlicher Öffnung nicht verträgt. Oder nicht verträgt mit der Freizügigkeit der Personen. Das schweizerische Beispiel der letzten 15 Jahre beweist das Gegenteil.

Konkret aber werden alle grossen verteilungspolitischen Fragen nicht mit der Öffnung, sondern in innenpolitischen Auseinandersetzungen entschieden. Das gilt für die Verteidigung der Löhne über den Sozialstaat und insbesondere den Renten bis hin zum Service Public. Oder dem Progressiven an unserem Steuersystem, der direkten Bundessteuer und der Vermögenssteuer.

Gerade im Steuerbereich hat die Schweiz, die soziale und solidarische Schweiz,  mit mehr internationaler Konformität viel zu gewinnen. Die Steuern gehören zu den Politikfeldern, in denen die Musik bei zunehmender internationaler wirtschaftlicher Verflechtung immer mehr in internationalen Zusammenhängen spielt. Auch bedingt durch die technologische Entwicklung, die Digitalisierung.

Die Mutter aller Auseinandersetzungen


Die machtpolitische Rolle der Linken hängt davon ab, ob sie in der Lage ist, die politischen Interessen in einer sozialen Perspektive zu definieren und national und international offensiv zu vertreten. Jene Teile der Linken, die ihre Positionen in einem platten Öffnungsdiskurs der Agenda der Wirtschaftsverbände unterordnen und dabei auch bereit sind, wichtige Teile des Lohnschutzes und des Service Public zu opfern, sind zur Subalternität und letztlich zur Selbstmarginalisierung verdammt. Weil dann nicht die Linke, sondern die Wirtschaftsverbände die Agenda bestimmen. 

Der Angelpunkt für die internationale und allem voran europäische Orientierung ist in der Schweiz die bevorstehende Abstimmung über die Personenfreizügigkeit. Es geht dabei in einer längerfristigen Perspektive gewissermassen um die Mutter aller Auseinandersetzungen. Wird sie gewonnen, sind die Wege nach vorne offen. Wird sie dagegen verloren, würde die Schweiz um Jahrzehnte zurückgeworfen. In Richtung Abschottung bis hin zu neuen Formen der Diskriminierung.

Eine entschlossene Linke, die den Lohnschutz verteidigt, wird in dieser Auseinandersetzung wie in den letzten 20 Jahren die Schlüsselrolle spielen. Insbesondere dann, wenn sie den Kampf für soziale Errungenschaften in der Perspektive sozialer Kämpfe führt, die über die nationalen Grenzen hinausreicht. Die geschlossene Unterstützung der europäischen Gewerkschaften für einen starken Lohnschutz und der jüngste Entscheid des europäischen Parlaments, als fast die Hälfte der EU-Parlamentarierinnen und Parlamentarier unsere Position unterstützten, sind dafür ermutigende Signale. Auch wenn in der auch bei uns häufig unterschätzten politischen Arbeit auf internationaler Ebene noch viel zu tun bleibt. 

Ermutigende Signale


Eine unabdingbare Voraussetzung für Erfolge bleibt allerdings, dass sich diese offene und soziale Linke auch in den kommenden Auseinandersetzungen gegen jene in den eigenen Reihen durchzusetzen weiss, die die Personenfreizügigkeit als neoliberales Konstrukt denunzieren, statt in ihr eine Freiheit der Menschen zu sehen. Auch das ist eine Lehre aus den vergangenen 20 Jahren. Welche zentrale Rolle der Orientierung der gewerkschaftlichen Linken auf diesem Feld zukommt, wird klar, wenn wir uns daran erinnern, dass auch die Kontingentierungspolitik einst eine gewerkschaftliche Position war.  

Der Rückblick auf die letzten Jahrzehnte hat gezeigt, wie offen, wie unvorhersehbar, ja manchmal unwahrscheinlich die jeweilige Entwicklung Europas und der Schweiz aus damaliger Perspektive war. Gleichzeitig galt und gilt die Feststellung, wie entscheidend jeweils die politische Orientierung der massgebenden Kräfte war, zu denen die gewerkschaftliche Linke gehört. Die als vielfältige, international orientierte und soziale Linke bei der Gestaltung der Zukunft eine grosse Rolle spielen muss. 

Eine berühmte Sentenz von Friedrich Hölderlin lautet: Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch. Nicht nur bei den Demokraten in den USA, auch in der schweizerischen Linken gibt es ermutigende Zeichen des Aufbruchs. Eines sozialen und ökologischen Aufbruchs.