close
1. Mai 2025

Blog

Für eine Linke, die sich etwas zutraut

Gerade weil sich die Dinge heute in atemberaubendem Tempo zum Schlechten entwickeln, erträgt es zur Beschreibung der Vorgänge keine Denkfaulheit.



Heute, 2025, liegt ein Viertel des 21. Jahrhunderts hinter uns. Vom Optimismus, vom Aufbruch des Jahres 2000 ist nichts mehr zu sehen. Autokraten wie Putin oder Trump dominieren weltpolitisch die Agenda. Mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ist der offene Bruch mit dem Völkerrecht nach Europa zurückgekehrt. Was Trump nicht hindert, die Nähe zum Aggressor Putin, statt zur EU zu suchen. In den USA wird die Demokratie durch Personenkult und Gleichschaltung bedroht. Nach 100 Tagen Trump ist klar: Der Staat soll nicht mehr dem Gemeinwohl, sondern den persönlichen Interessen des Präsidenten dienen. Rechtsextreme in aller Welt werden hofiert. Und die Regeln nach den Vorstellungen der Tech-Milliardäre zurechtgebogen. Die Entwicklung in den USA, der ältesten Demokratie der Welt, ist gefährlicher als je in ihrer fast 250-jährigen Geschichte.

Trotzdem ist es falsch, das Faschismus zu nennen. Es ist irritierend, dass Leute, die ich sonst schätze, dieses Schlagwort einsetzen. Der mörderische Faschismus im Europa der dreissiger Jahre des letzten Jahrhunderts war verantwortlich für die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und den Tod von Millionen von Menschen. Das ist etwas fundamental anderes als die heutigen Entwicklungen in den USA.

Gerade weil sich die Dinge heute in atemberaubendem Tempo zum Schlechten entwickeln, erträgt es zur Beschreibung der Vorgänge keine Denkfaulheit. Vieles, was heute geschieht, ist neu und war bis vor kurzem noch kaum vorstellbar. Angefangen bei den noch nie dagewesenen technologischen und medialen Mitteln bis hin zum Spektakel der Massendeportationen von Migrantinnen und Migranten, verbunden mit der offenen Missachtung von Gerichtsentscheiden.

Die wache Beobachtung und präzise Beschreibung der üblen Vorgänge ist die Basis politischer Handlungsfähigkeit. Der Begriff des Faschismus führt hier nicht weiter. Nach wie vor zählen Wahlen. Auch in Amerika. Nach wie vor gibt es freie Medien, Bewegungen und Demonstrationen quer durch das Land. Und so sehr die Gerichte unter Druck stehen, Richterinnen und Richter eingeschüchtert werden und die Exekutivmacht strapaziert wird, auch eine Gewaltenteilung.

Was in den USA seit der neuen Präsidentschaft Trump passiert, hat weltweit Folgen, die wir heute noch nicht absehen können. Gerade in Europa. Zusammen mit dem Aufstieg fremdenfeindlicher und rechtsextremer Parteien ergibt sich eine toxische Mischung. Über die gemeinsame Verteidigung hinaus sind die Grundlagen der positiven Entwicklung Europas in den letzten Jahrzehnten in Frage gestellt.

Es geht um ausserordentlich viel. Auf dem Spiel stehen die grossen Errungenschaften der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 80 Jahre ist es jetzt her seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der endgültigen Niederlage der Nazi-Herrschaft. Die Lehre aus diesen Verheerungen waren die universellen Menschenrechte, die weltweiten Institutionen wie die UNO, das Asylrecht und der Sozialstaat. Diese Errungenschaften werden heute bedroht und in Frage gestellt. Auch bei uns gibt es solche Stimmen. Umso mehr zählt es heute, für diese Errungenschaften offensiv einzutreten.

Niemand kann bestreiten, dass die Menschenrechte immer wieder gebrochen wurden. Auch im Westen, und vom Westen. Und dass sie viel zu lange, für zu viele, leere Versprechen geblieben sind. Trotzdem: Die Menschenrechte waren in der Menschheitsgeschichte ein epochaler Schritt nach vorne. Sie sind der Fixstern des Fortschritts. Menschenrechte eröffneten den Weg zu neuen Freiheiten. Auch für die Schweiz war der Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention ein Quantensprung.

Unter Druck steht zuallererst das Asylrecht. Auch in der Schweiz. Dabei gehörte das Recht auf Asyl von Anfang an zur modernen Schweiz, zur Identität der freien und demokratischen Schweiz. Zu ihrem Stolz immer dann, wenn sie es offen und grosszügig gewährte. Paul Grüninger und andere mutige und aufrechte Menschen standen in der Nazi-Zeit in dieser Tradition. Gegen die antisemitische Engherzigkeit der Zuständigen in Bundesbern. Verteidigen wir das Asylrecht, offensiv! Für die Menschen auf der Flucht vor Not und Verfolgung und für die Werte unserer Verfassung. Schutzsuchende afghanische Frauen, um nur ein Beispiel zu nennen, sind darauf angewiesen.

Gerade in den letzten Wochen werden wir in diesem Zusammenhang wieder mit perfiden Kampagnen zum Thema «Ausländerkriminalität» konfrontiert. Diese mixen die Begriffe «Ausländer» mit «Kriminalität». Und umgekehrt. Niemand spräche von «Schweizerkriminalität». Oder von «Männerkriminalität». Obschon ein grosser Teil der Straftaten auf das Konto von Männern geht. Begriffe prägen das Denken. Und die Politik.

Was ist der Zweck solcher Kampagnen? Emotionen, Hass und Fremdenfeindlichkeit schüren, die Menschen spalten. Schutzbedürftige diskreditieren und ausgrenzen.

Nicht nur bei uns, aber auch bei uns wird obsessiv versucht, für alle gesellschaftlichen Probleme die Migration verantwortlich zu machen. Nicht nur von Rechtsparteien, auch von führenden Medien. Gewisse Dinge sind bei uns allerdings speziell. Der wirtschaftliche Erfolg der Schweiz ist eng mit der Migration verzahnt. Die Personenfreizügigkeit, sie hat Schluss gemacht mit dem diskriminierenden Saisonnierstatut, ist ein Erfolg und eine Errungenschaft. Die Personenfreizügigkeit, die mit einem wirksamen Schutz der Löhne verbunden ist. Der Lohnschutz nützt, direkt oder indirekt, allen arbeitenden Menschen, statt sie nach der Herkunft zu spalten.

Aber: So erfolgreich die Schweiz wirtschaftlich und auch gesellschaftlich ist; politisch hinkt sie im Umgang mit der Migration hinterher. Als Folge ständiger ausländerfeindlicher Kampagnen. Wegen der hohen Hürden zum Bürgerrecht verfügt inzwischen mehr als ein Viertel der ständigen Wohnbevölkerung über kein Bürgerrecht und keine politischen Rechte. Ein unwürdiger Zustand für eine Demokratie. Nötig ist ein neues Bürgerrecht. So wie es eine neue Initiative verlangt. Für die Stärkung der Schweizer Demokratie. Für die Rechte von über zwei Millionen Menschen, die zur Schweizer Wohnbevölkerung gehören. Viele von ihnen sind hier geboren und aufgewachsen.

Der Kampf um einen leistungsfähigen Sozialstaat bleibt eine der grossen Auseinandersetzungen unserer Zeit. Nicht nur in den USA, wo Trump und Musk derzeit abreissen, was immer sie können. In gemilderter Form gibt es den Konflikt auch bei uns. Was hat die Priorität, tiefere Steuern für die Reichen und die Konzerne? Oder nicht vielmehr eine gute Bildung für alle, mit einem leistungsfähigen Sozialstaat und einer funktionierenden Infrastruktur? Dank der direkten Demokratie ist in der Schweiz die Antwort klar: Gegen Sozialabbau. Für eine starke AHV und einen funktionierenden Leistungsstaat. Für eine gute Infrastruktur und einen guten öffentlichen Verkehr. Perspektiven für alle und nicht nur für wenige.

Dieser Kampf muss immer von neuem geführt werden. Aktuell wieder der gegen Steuersenkungen für Reiche. Dafür, dass es wirtschaftliche und soziale Fortschritte für alle gibt, braucht es eine Linke, die sich etwas zutraut. Wie exemplarisch beim Kampf für die 13. AHV-Rente.

Der 1. Mai ist der einzige nichtreligiöse Feiertag, der weltweit gefeiert wird. Seit 1890, seit 135 Jahren, steht er unter dem Leitstern der Solidarität. Diese Solidarität ist heute, in einer Welt von Autokraten und Milliardären, ungebrochen aktuell.

Die Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung, die den 1. Mai ins Leben gerufen hat, war eine Bewegung armer Menschen ohne wirtschaftliche und politische Macht. Sie hat gezeigt, dass auch die vermeintlich Machtlosen die Geschichte verändern können, wenn die Menschen zusammenstehen. Der Sozialstaat ist die grösste Errungenschaft der Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung des 20. Jahrhunderts. Er musste erkämpft werden.

Die geopolitische Lage ist kritisch, nicht zum ersten Mal. Aber fest steht auch: Die Geschichte ist nach vorne offen. Niemand hätte vor 25 Jahren vorhergesehen, wie negativ sich die Welt geopolitisch in weniger als einem Vierteljahrhundert entwickeln würde. Aber ein Vierteljahrhundert zuvor, 1975, noch im Kalten Krieg, war ebenso wenig absehbar, welche Aufbrüche in kaum 20 Jahren möglich würden.

Der 1. Mai ist eine Manifestation der Solidarität. Ein Aufruf zum Engagement. Es kommt auf uns alle an, wo und wie auch immer wir leben.

Und auf eine starke Linke, die sich ihrer Bedeutung, ihrer Möglichkeiten bewusst ist. Im Kampf für die Menschenrechte und für den sozialen Fortschritt. Weltweit, in Europa, in der Schweiz.