Die Eröffnung des Gotthard-Basistunnels am 1. Juni ist ein verkehrspolitisches Jahrhundertereignis: der längste Eisenbahntunnel der Welt, das grösste Bauwerk, das die Schweiz je erstellt hat. Vom Entscheid bis zur Realisierung dauerte es weniger als 25 Jahre, was für ein Werk von dieser Komplexität und Grössenordnung eine grosse Leistung ist. Der neue Basistunnel schafft die Voraussetzungen für eine weitere Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene, wie es der Alpenschutz verlangt. Und er verkürzt die Reisezeit im von Zürich und Mailand um rund eine Stunde, sobald der Ceneri-Basistunnel fertig sein wird (und die betriebliche Seite keine Schwierigkeiten mehr bereitet). All das ist ein herausragendes Beispiel dafür, welche Zukunft die Bahn, die grosse Verkehrsinnovation des 19. Jahrhunderts, die im 20. Jahrhundert gegenüber dem Autoverkehr aber in Rückstand geriet, im 21. Jahrhundert hat.
Wenig Aufmerksamkeit gefunden hat bisher allerdings der grössere verkehrspolitische Kontext des neuen Quantensprungs im Nord-Süd-Verkehr. 1992, als der Entscheid für den Bau der Neat fiel, war der Kalte Krieg gerade eben zu Ende gegangen. Europa war gleichbedeutend mit Westeuropa. Kaum jemand hätte sich damals vorstellen können, dass sich die EU in weniger als fünfzehn Jahren um zehn mittel- und osteuropäische Länder erweitern würde.
Die politische und wirtschaftliche Schwerpunktverschiebung Europas hatte verkehrspolitische Konsequenzen. Waren die Eisenbahntransversalen bisher von Nord nach Süd orientiert, steht inzwischen die West-Ost-Verbindung im Vordergrund. Bekanntestes Beispiel dafür ist das Projekt einer europäischen Magistrale Paris-Budapest. Das lange umstrittene Projekt des neuen Durchgangbahnhofs Stuttgart 21 ist Teil dieser Magistrale. Ebenso wichtig wie diese Magistrale soll das Projekt für einen Mittelmeer-Korridor von Sevilla über Barcelona, Lyon, Turin, Mailand und Zagreb nach Budapest werden. Er soll bis an die Grenze der Ukraine führen.
Vor kurzem erschien, herausgegeben von Jon Mathieu und anderen, die sehr lesenswerte „Geschichte der Landschaft in der Schweiz“. Sie zeigt, dass in der Schweiz die Nord-Süd-Verbindungen historisch-kulturell – und in der Folge davon auch politisch – weit überrepräsentiert sind. Obschon die Verkehrsströme von West nach Ost und umgekehrt um ein Vielfaches grösser sind. Besonders krass zeigt sich das bei den Eisenbahnverbindungen. Immerhin haben sich auf der West-Ost-Achse die Anschlüsse Richtung Westen dank des TGV stark verbessert. Die Bahnverbindung nach München, die einst bis Prag führte, ist dagegen bis heute ein Stiefkind geblieben. Wie stark die Strassenverbindungen dominieren, zeigt sich auch darin, dass sich SBB und Deutsche Bahn inzwischen selber mit Fernbussen konkurrenzieren. Von der Qualität einer Fernverkehrsverbindung der Bahn ist das weit entfernt. Ändern wird sich frühestens 2021 mit der Elektrifizierung der Bahnverbindung im Allgäu.
So erfreulich die Eröffnung des Gotthard-Basistunnels am 1. Juni ist, so dringend ist es, dass die schweizerische Eisenbahnpolitik eine andere Weichenstellung nicht verpasst: Es wäre ein Fehler von historischem Ausmass, die dynamische Verkehrsentwicklung zwischen West und Ost vor allem oder gar ausschliesslich der Strasse zu überlassen.