Die moderne Schweiz beginnt mit dem Jahr 1848. Mit der ersten Bundesverfassung von 1848. Das war der Anfang einer ganz neuen Epoche. In der plötzlich nichts mehr so war, wie es zuvor lange Zeit – scheinbar unverrückbar – war.
Schänis ist ein unscheinbares Dorf im Gasterland. Wenigstens auf den ersten Blick. Doch liegt der machtpolitische Ausgangspunkt für die fundamentalen Umwälzungen von 1848 in Schänis. Genauer gesagt: bei der Landsgemeinde vom 2. Mai 1847 in Schänis.
Diese Landsgemeinde vom 2. Mai 1847 verlief turbulent, viel turbulenter als gewöhnlich. Am Schluss stimmten die katholischen Gasterländer mit knappem Mehr liberal, für alle überraschend. Die liberale Mehrheit war hauchdünn, aber es war eine Mehrheit. Das genügte.
Mit dem Gasterländer Mehr kippte der politische Wackelkanton St.Gallen ins liberal-radikale Lager. Dadurch wurde St.Gallen zum «Schicksalskanton» für die ganze Schweiz. Bis zu diesem Entscheid war die Tagsatzung durch ein Patt blockiert. Jetzt, dank der Landsgemeinde von Schänis, wegen des Kantons St.Gallen, gab es plötzlich eine Mehrheit gegen den Sonderbund. Als Folge davon gelang der historische Durchbruch zum Bundesstaat.
Die neue Mehrheit erreichte in kürzester Zeit durchschlagende Erfolge. Weil sich die Radikal-Liberalen viel schneller als erwartet zuerst militärisch und dann vor allem auch politisch gegen die Reaktionäre durchsetzten, die noch für die alte Ordnung kämpften, die alte Eidgenossenschaft als loser Staatenbund.
Der Staatsrechtler Max Huber formulierte es vor Jahrzehnten so: «Die Bundesverfassung von 1848, mit kühner Entschlossenheit in kritischem aber wohlgewähltem Zeitpunkt geschaffen, ist die glücklichste und bedeutendste Tat unserer Geschichte». Die schweizerische Revolution von 1848 war in Europa die einzige Revolution jenes Aufbruchjahrs, die nachhaltig erfolgreich war. Sie war weltoffen und zukunftsgerichtet. Die Schweiz wurde zum Zufluchtsort für freiheitsliebende Flüchtlinge aus ganz Europa.
Was brachte die neue Bundesverfassung?
Zuerst und vor allem anderen die Rechtsgleichheit. Die Abschaffung der Untertanenverhältnisse. Es gab keine Vorrechte mehr des Ortes, der Familie, der Geburt oder der Personen.
Garantiert wurde die Niederlassungsfreiheit. Die Pressefreiheit. Die Meinungsfreiheit.
Die neue Bundesverfassung brachte nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich einen enormen Aufschwung. Die Gewerbefreiheit wurde gewährleistet. Dem Bund wurde das Recht eingeräumt, auf dem ganzen Gebiet der Eidgenossenschaft öffentliche Werke zu errichten. Unter Einschluss des Rechts, gegen Entschädigung Enteignungen durchzuführen. Die grossen Eisenbahnprojekte wären sonst nicht möglich geworden. Sie waren die Basis für die industrielle Entwicklung. Mass und Gewicht wurden vereinheitlicht. Ein Postmonopol errichtet. Die Zölle bundesweit geregelt. Der funktionierende Bundesstaat war die zentrale Voraussetzung für die positive politische und wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz.
Was hat das mit uns zu tun? Mit den heutigen Problemen und Perspektiven?
Beginnen wir mit dem fundamentalen Prinzip der Rechtsgleichheit. Der Grundsatz gleicher Rechte für alle hat bis heute an Aktualität nichts eingebüsst. Denn der Grundsatz der Rechtsgleichheit meint gleiche Rechte nicht nur in der Theorie, dem Buchstaben nach, sondern auch in der Praxis.
Davon sind wir in der real existierenden Schweiz von heute leider weit entfernt. Und was besonders bedenklich ist, wieder weiter entfernt davon, als es die Schweiz in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg war. Politiker und Medien berufen sich gerne auf den sogenannten «Mittelstand». Dabei weiss jedes Kind, dass es im wirklichen Leben soziale Klassen gibt. Ärztinnen und Verkäuferinnen, Bauarbeiter und Manager haben gänzlich verschiedene Chancen und Aussichten im Leben. Wer der Arbeiterklasse angehört, wohnt anders als Leute, die reich sind. Nicht nur beim Einkommen und Vermögen sind die Unterschiede gewaltig. Auch die Lebenserwartung und die Bildungschancen der Kinder klaffen auseinander.
Offiziell gibt es in der Schweiz keine Vorrechte nach Geburt und Herkunft mehr. Dennoch erleben wir heute bei einer kleinen Schicht Privilegierter Entwicklungen, die zu Recht als neue Feudalisierung bezeichnet wird. Inzwischen ist es soweit, dass die reichsten 2 Prozent für sich allein gleich viel besitzen wie die übrigen 98 Prozent der Bevölkerung zusammen. Es gibt bei uns Milliardäre, die werden ihren Nachkommen so viel hinterlassen, dass diese jeder für sich alleine alle Wohnungen und Einfamilienhäuser im Kanton Appenzell Innerrhoden aufkaufen könnten. Die den Reichen nahestehenden Parteien überbieten sich mit politischen Bücklingen gegenüber den Privilegierten. Die Steuern für diese Leute sind in den letzten Jahren systematisch gesenkt oder gar abgeschafft worden.
Die Grundsätze der Rechtsgleichheit werden aber nicht nur auf der obersten Stufe der sozialen Leiter verletzt. Das Gegenstück ist jener Teil der schweizerischen Arbeiterklasse, der nicht über einen Schweizer Pass verfügt. Diesen Menschen droht deshalb, schlimmstenfalls wie Bürger zweiter Klasse behandelt zu werden, auch wenn sie seit Jahrzehnten hier wohnen, hier arbeiten und im Unterschied zu vielen Superreichen regulär Steuern bezahlen. Zum Beispiel dann, wenn ihr Kind als hier geborener und aufgewachsener Jugendlicher eine Straftat begeht und ihm deshalb die Ausschaffung in ein ihm unbekanntes Land seiner Vorfahren droht.
Das widerspricht demokratischen Prinzipien genauso wie der masslose Reichtum einiger weniger, die sich damit fast alles kaufen können. Bis hin zu politischen Entscheiden, ständig neuen Steuerprivilegien und Sonderwohnzonen für die Reichen, wo die Probleme des Alltags sie nicht belästigen.
Die Rechtsgleichheit und die Abschaffung der Vorrechte von Geburt und Herkunft sind Prinzipien mit Sprengkraft. Wir wissen zwar, dass die Rechtsgleichheit der Bundesverfassung von 1848 damals nur die Männer, nicht aber die Frauen, meinte. Und bloss die Christen, während sie die Juden bis 1871 ausschloss. Aber: Das Versprechen der Gleichheit war und bleibt stärker als deren Beschränkung. Wenigstens auf lange Sicht. Denn die Rechtsgleichheit schliesst grundsätzlich alle ein. Wer die Rechtsgleichheit einschränken will, gerät in Argumentationsnot. Der Grundsatz der Rechtsgleichheit hat seit 1848 die Demokratie und die Rechte der Menschen gestärkt und vorwärtsgebracht, Rückschlägen zum Trotz. Für die die Zukunft gilt das wie in der Vergangenheit.
Der Rückblick auf 1848 ist aus heutiger Perspektive aus einem weiteren Grund aufschlussreich. Eine entscheidende Triebkraft für die bürgerlichen Revolutionen war der Bildungsschub als Folge der Aufklärung – die allgemeine Schulbildung und die Einrichtung weiterführender Schulen. Gerade hier, in diesem Tal im Kanton St.Gallen, lohnt sich die Erinnerung an das Lied «Lueged vo Berge und Tal». Es stammt von dem in Sargans geborenen Lehrer Josef Anton Henne. Es war nicht einfach ein Heimwehlied. Sondern wollte während des demokratischen Bildungsaufbruchs der 1830er Jahre den Blick über die Kantonsgrenzen hinaus auf den nationalen Aufbruch weiten. Nicht zufällig war Josef Anton Henne auch Initiator des St.Galler Volksvetos. Des Vorläufers unseres heutigen fakultativen Referendums.
Demokratie und Volksbildung gehören untrennbar zusammen. Deshalb ist es so entscheidend, dass die Bildungschancen der Jungen gefördert werden, unabhängig von der sozialen Herkunft. Und deshalb ist es so besorgniserregend, wenn die Hürden für die Bildung wieder höher werden, die Bildungschancen wieder stärker als in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg von der sozialen Stellung der Eltern abhängig sind. (Deshalb braucht es auch in allen Regionen gut ausgebaute und leicht zugängliche öffentliche Bibliotheken, wie es eine neue Volksinitiative fordert. Bibliotheken sind als öffentliche Bildungsstätten Investitionen in die Zukunft.).
Der Rückblick auf 1848 lehrt exemplarisch, wie stark es für eine positive politische und wirtschaftliche Entwicklung auf einen funktionierenden Staat ankommt. Das gilt nicht nur für die weniger Privilegierten. Nicht nur für die Arbeiter und Angestellten, für die Rentnerinnen und Rentner, sondern auch, und gerade in dieser ländlichen Gegend, für die Bauern. Für alle, die eine positive wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung wünschen, die allen und nicht nur wenigen zugutekommt. Deshalb darf der Staat finanziell nicht ausgehungert werden.
Schliesslich erinnert die Schäniser Landsgemeinde vom 2. Mai 1847 daran, dass weitreichende politische Aufbrüche oft nicht dann und nicht dort passieren, wo man sie am ehesten erwarten würde. Hätten die Gasterländer an jener Landsgemeinde so gewählt, wie sie vorher und auch später regelmässig wählten, nämlich streng katholisch-konservativ, wäre Gaster nicht zum Schicksalsbezirk und St.Gallen nicht zum Schicksalskanton geworden. Politische Aufbrüche sind unberechenbar. Aber manchmal nötig: Mehr Demokratie, mehr Rechtsgleichheit und soziale Gerechtigkeit braucht es auch heute. Dringend.
Kampagne 2011
Der Aufbruch in die moderne Schweiz
Im unscheinbaren Dorf Schänis liegt der machtpolitische Ausgangspunkt für die fundamentalen Umwälzungen von 1848.