Der Bundesrat hat am letzten Freitag wichtige Weichen gestellt. Er hat den Vorschlag für einen Rahmenvertrag, so wie er heute vorliegt, nicht unterzeichnet. Er hat entschieden, dass die SVP-Initiative zur Kündigung der Personenfreizügigkeit zeitlich vorgezogen werden muss. Denn vom Entscheid darüber, ob die Personenfreizügigkeit gekündigt werden muss, hängt alles weitere ab. Käme die SVP-Initiative durch, kann man alles, was jetzt vorliegt, gleich wieder vergessen und müsste wieder ganz vorne wieder beginnen. Wir hätten den schweizerischen Brexit.
Mit diesen Positionsbezügen ist der Bundesrat endlich wieder von einem Teil des Problems zu einem Teil der Lösung geworden.
Die Motion des Ständerats bleibt trotzdem wichtig und nötig, unabhängig von der positiven Vorwirkung, die sie auf den jüngsten Entscheid des Bundesrates hatte. Es war ja der Ständerat, der in der politischen Desorientierung der letzten Jahre in zentralen Dossiers für Orientierung gesorgt hat.
Die Motion des ständerätlichen WAK hat den Vorzug der Klarheit auch dort, wo die Stellungnahme des Bundesrats bei allem Richtigen leider noch immer verschiedene Interpretationen zulässt. Und Klarheit in den zentralen Fragen ist in Verhandlungen eine entscheidende Voraussetzung für Erfolge. Überhaupt und gerade auf dem heiklen Feld der Europapolitik. Was wir seit letztem Sommer erlebt haben, ist ein Beispiel dafür, welches Desaster Schweizer Diplomaten und einzelne Bundesräte anrichten können, wenn sie auf eigene Faust und ohne jede Legitimation elementare Positionen der Schweiz in Frage stellen und angreifen: ein enormer Schaden nicht nur in der Schweiz, sondern gegenüber den massgebenden europäischen Gremien. Denn die europäischen Verhandlungspartner müssen wissen, was die Schweiz will. Und das ohne zwiespältige Stellungnahmen von einzelnen Mitgliedern der Landesregierung, die die offizielle Verhandlungsposition der Schweiz unterlaufen und diskreditieren.
Was Unklarheiten anrichten können, zeigt jetzt auch wieder die Antwort von Kommissionspräsident Juncker von gestern auf den Brief des Bundesrats vom 7. Juni 2019. Kommissionspräsident Juncker sagt in diesem Brief wieder, dass der Rahmenvertrag samt Protokollen von Kommissar Hahn mit Bundesrat Cassis verhandelt und akzeptiert worden sei. Das aber war und ist nach der Darstellung von Bundesrat Cassis und seinem Chefdiplomaten gerade nicht der Fall: Vielmehr handle es sich bei den Abbauvorschlägen zum Lohnschutz um Vorschläge der EU, die von Bundesrat Cassis und seinem Chefunterhändler nicht hätten akzeptiert werden können, weil sie der schweizerischen Verhandlungsposition, beziehungsweise der roten Linie widersprechen. Vorschläge sind Vorschläge und kein Verhandlungsergebnis.
Wenn Kommissionspräsident Juncker in seinem Brief von gestern schreibt, dass höchstens «clarifications», also Klärungen auf der Basis eines unveränderlichen Vertragstexts in Frage kämen, dann muss man, dann muss der Bundesrat in aller Klarheit festhalten: Die nicht verhandelten Teile des Vorschlags für einen Rahmenvertrag würden den schweizerischen Lohnschutz entscheidend schwächen. Sie wurden vom Bundesrat denn auch nicht paraphiert. Bei dieser Ausgangslage genügen «clarifications» nicht. Vielmehr braucht es substanzielle Modifikationen, Änderungen, damit auf den Rahmenvertrag eingetreten werden kann.
Kommen wir konkret zu dem, was auf dem Spiel steht. Wie unentbehrlich und bitter notwendig der starke und bewährte schweizerische Lohnschutz ist, zeigt drastisch wieder der kürzlich publizierte jüngste Seco-Bericht zu den flankierenden Massnahmen. 40‘000 Betriebe wurden letztes Jahr kontrolliert. Fast in jedem fünften mussten Lohnunterbietungen oder Scheinselbständigkeit festgestellt werden. Ohne die wirksame und konsequente Durchsetzung des Lohnschutzes würde unser Lohnniveau in sensiblen Bereichen einbrechen. Wir müssen unser wirksames und erfolgreiches Schutzdispositiv nicht nur verteidigen, sondern auch weiterentwickeln können, wenn dies notwendig wird. All das verlangt die Motion der WAK. Sie verlangt damit nichts anderes als Selbstverständlichkeiten auf der Basis der bisherigen Position des Gesamtbundesrates. Selbstverständlichkeiten aber, die bei dem, was wir seit letztem Sommer erlebt haben, wieder bekräftigt werden müssen.
Wenn wir heute eine kleine Europadebatte führen, dann lohnt es sich immerhin, auch den längerfristigen Horizont nicht aus den Augen zu verlieren.
Die Haltung der Schweiz als einem Land mitten in Europa und eng verflochten mit den europäischen Ländern war immer geprägt von Phasen der Öffnung und der Abschliessung. Für das 20. Jahrhundert beschrieb der Historiker Herbert Lüthy in seinem wegweisenden Aufsatz «La Suisse des deux-après guerres» die diametral verschiedene Reaktion der Schweiz auf den Zusammenbruch der alten Ordnung nach dem ersten Weltkrieg und auf die Neuordnung der Welt nach dem zweiten Weltkrieg. Während sich die Schweiz nach dem ersten Weltkrieg in Anlehnung an Positionen, die schon im 19. Jahrhundert entwickelt wurden, für einen Kurs der Öffnung entschied, kam es nach dem zweiten Weltkrieg zu einem extremen Sonderfalldenken und zu einer politischen Abschliessung gegenüber internationalen Organisationen. Wie auch zum Entscheid gegen die Beteiligung am europäischen Einigungsprozess. Dieser politische Kurs der Abschliessung während der Nachkriegsjahrzehnte wurde durchbrochen erst durch den Beitritt der Schweiz zur UNO im Jahre 2002 und vor allem durch die Bilateralen Verträge mit der EU, dem grössten Oeffnungsschritt der Schweiz nach dem Scheitern des EWR im Jahre 1992.
Das Herzstück der bilateralen Verträge ist die Personenfreizügigkeit. Sie hat Schluss gemacht mit dem diskriminierenden Saisonnierstatut. Die Personenfreizügigkeit hat grosse wirtschaftliche Vorteile. Die Personenfreizügigkeit in Europa ist aber gleichzeitig auch eine zivilisatorische Errungenschaft, die nicht nur auf ihre wirtschaftliche Dimension reduziert werden darf.
Möglich geworden ist diese grösste Veränderung auf dem schweizerischen Arbeitsmarkt seit 1914 durch den Schutz der Löhne. Der neue nichtdiskriminierende Lohnschutz mit Lohnkontrollen und einer Stärkung der Gesamtarbeitsverträge hat dazu geführt, dass in der Schweiz die Löhne mit dem neuen System nicht eingebrochen sind, sondern gerade in den Tieflohnbereichen stark verbessert werden konnten. Das im Gegensatz zu einem negativen internationalen Trend in dieser Phase. Und auch im krassen Gegensatz zu UK, wo die Personenfreizügigkeit ohne jede Schutzmassnahme eingeführt wurde, mit allen negativen Folgen bis hin zum Brexit.
Wo stehen wir heute? Die Schweiz ist nicht Teil der EU. Wir haben also nicht die Möglichkeit, die europäischen Regeln, die in ständiger Bewegung sind, in eine positive Richtung mitzubeeinflussen und zu prägen. Umso wichtiger ist es, auf den schweizerischen Spezialitäten zu beharren, wo wir der EU sozial und ökologisch voraus sind. Konkret beim Lohnschutz und beispielsweise bei der starken Stellung der Bahn.
Beim Lohnschutz vertreten bedeutende Kräfte in der EU genau die Positionen wie wir selber, nicht nur die geschlossenen europäischen Gewerkschaften, sondern auch Strömungen, die bei den europäischen Wahlen stärker geworden sind, zum Beispiel die Grünen. In der Schweiz ist es zu Recht nicht möglich, dass unser Bundesgericht die Lohnschutzmassnahmen mit Berufung auf die Wirtschaftsfreiheit aushebeln kann, im Interesse der Firmen, die mit schlechten Löhnen höhere Gewinne erzielen wollen. Genauso wenig kann es in Frage kommen, dass der EuGH, der Gerichtshof der EU, unseren schweizerischen Lohnschutz oder Teile davon im Interesse der Marktfreiheiten der Firmen, das heisst der Firmen, die sich nicht an unsere Löhne halten wollen, für null und nichtig erklären kann. In unserer Wirtschaftsverfassung geht der Lohnschutz dem Wettbewerb der Firmen vor. Das ist richtig so. In der Schweiz. Und es müsste auch in der EU so sein.
Dass wir in den vitalen Bereichen auf unseren Schweizer Spezialitäten beharren müssen, macht auch das Beispiel der Bahn klar. Unser System der integrierten Bahn ist ökologisch und mit Blick auf die Effizienz des Verkehrssystems im europäischen und weltweiten Massstab ein Erfolgsmodell. Es kann doch nicht in Frage kommen, unser Erfolgsmodell der integrierten Bahn zu liberalisieren und zu zerschlagen, so wie es die europäischen Eisenbahnpakete vorsehen.
Wer sich, wie gewisse Liberalisierer rund um Economiesuisse und Avenirsuisse oder wie alle heissen, die innenpolitisch keine Chance haben, vom Rahmenvertrag mit der EU erhofft, dass jetzt endlich die Zeit gekommen ist, die angeblich verkrustete Schweizer Wirtschaft liberalisieren, wird sich die Finger verbrennen. Das gilt nicht nur für das heikle Kapitel Landwirtschaft. Sondern für alle Bereiche des sogenannten Service Public. Bis hin zu wirtschaftspolitisch sinnvollen Einrichtungen wie den kantonalen Gebäudeversicherungen. Die Lebensqualität der Schweiz beruht auf einer starken Stellung der öffentlichen Hand in den Infrastrukturen und den zentralen Dienstleistungen. Sprich einem starken Service Public. Er ist ein Rückgrat des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Die Basis einer starken Wirtschaft. Und für die vielen Randregionen eine Lebensader. Das wollen und das können wir nicht preisgeben.
Somit muss sich, wer zum Europaprojekt positiv steht, und wer die bilateralen Verträge weiterentwickeln will, an diesen vitalen Interessen orientieren. Die Geschichte der erfolgreichen Volksabstimmungen zeigt, dass Öffnungsschritte politisch getragen werden. Aber nur dann, wenn die vitalen sozialen und ökologischen Interessen gewahrt bleiben.
Wir leben in unübersichtlichen Zeiten. Die EU ist in Bewegung, die Schweiz ist in Bewegung. In solchen Zeiten sind klare Orientierungen entscheidend. Die Motion der WAK des Ständerates schafft diese Orientierungen. Die Wahrung der sozialen Interessen, sprich die klare Haltung zum Lohnschutz und zum Service Public, ist der Schlüssel für das Verhältnis zur EU.