Dass dieses Gesetz möglich wurde, ist den Betroffenen zu verdanken. Sie haben es gewagt, nach Jahrzehnten des Verschweigens, der Verdrängung und der Unterdrückung das Schweigen zu brechen. Betroffene, die ihr Schicksal nicht länger als persönliches Verhängnis verstanden haben, sondern als grosses staatliches Unrecht, das ihnen allen angetan wurde. Denn diese traurigen Vorgänge gehen nicht nur die administrativ Versorgten, ihre Angehörigen und Nachkommen, sondern uns alle etwas an.
Dunkles Kapitel Schweizergeschichte
Die Rehabilitierung ist eine Referenz an Menschen wie Ursula Biondi, Madeleine Ischer, Gina Rubeli, Christoph Pöschmann, Kurt Solenthaler, Rita Schreier und Christina Jäggi. Sie haben es mit ihrem Mut und ihrem Engagement möglich gemacht, dass dieses dunkle Kapitel schweizerischer Sozialgeschichte öffentlich geworden ist. Zentrale Beiträge hat der «Schweizerische Beobachter» geleistet. Ohne das Engagement seiner Redaktoren, allen voran Dominique Strebel, wären wir heute nicht so weit. Eine Referenz verdient schliesslich der schon 1959 verstorbene Publizist und Schriftsteller Carl Albert Loosli. Selber ein Betroffener, hatte er schon 1938 die willkürlichen Versorgungen mit seinen Artikeln unter dem Titel «Administrativjustiz» in aller Schärfe angeprangert, wenn auch damals erfolglos.
Worum es ging
Worum ging es bei den administrativen Versorgungen, die in der Schweiz bis 1981 praktiziert wurden? Menschen, vor allem junge Menschen, wurden in Strafanstalten eingewiesen, obschon sie nie ein Delikt begangen hatten. Bei jungen Frauen genügte ein uneheliches Kind oder das, was man damals «vorehelichen Geschlechtsverkehr» nannte. Eingesperrt wurden Menschen, die sich nicht so verhielten, wie es die Behörden oder ihr Umfeld von ihnen erwarteten. Eine junge Frau wurde beispielsweise Ende der 60er Jahre letztlich dafür sanktioniert, dass sie im Dorf frech auf einem Velo mit aufgestellter Lenkstange herumfuhr. Einen Rechtsweg gab es bei den administrativen Versorgungen nicht. Die Betroffenen waren der obrigkeitlichen Willkür ausgeliefert.
Durch die Lektüre dieser traurigen Schicksale – sie sind eindrücklicher als jeder Roman – zieht sich wie ein roter Faden die Tatsache der Armut der Versorgten. Die Geschichte der administrativen Versorgungen ist im Rückblick, wie es seinerzeit schon C.A. Loosli formuliert hatte, die eines Kampfes gegen Arme und Mittellose, die sich nicht konform verhielten. Bei einer unehelichen Geburt beispielsweise gab es Lösungen, wenn die Mutter aus gehobenen Schichten kam. Bei jungen Frauen aus einfachen oder erst recht aus armen Verhältnissen schlugen die Behörden oft erbarmungslos zu. Die Erfahrungsberichte der Versorgungen in Hindelbank zu diesem Thema sind erschütternd.
Unrecht anerkannt
Mit dem Bundesgesetz über die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen wird das Unrecht anerkannt, das diesen Menschen zugefügt wurde. Das ist für sie selber und für ihre Angehörigen und Nachkommen ein zentraler Schritt. Aber nicht nur für sie: auch für die schweizerische Gesellschaft. Indem sie nämlich klar macht, dass sie sich diesem dunklen Kapitel ihrer Sozialgeschichte stellen will. Mit diesem Gesetz ist die Geschichte allerdings nicht abgeschlossen. Vielmehr beginnt eine neue Etappe. Zentral sind dabei drei Dinge. Erstens das unbedingte Akteneinsichtsrecht für die Betroffenen und, nach ihrem Tod, für die Angehörigen. Das wäre eigentlich eine Selbstverständlichkeit, war es in der Vergangenheit aber oft nicht.
Zweiter wichtiger Punkt ist die Einsetzung einer unabhängigen Expertenkommission für die Untersuchung der Geschichte der administrativen Versorgungen. Die Formulierung des Gesetzes sorgt dafür, dass die Untersuchung breit genug angelegt wird, unter Einbezug anderer staatlicher Zwangsmassnahmen wie der Zwangssterilisierten. Es handelt sich um eine Untersuchung, die für wichtige Erkenntnisse für unsere Gesellschaft sorgen soll.
Entschädigung als offene Frage
Der dritte Punkt ist wohl der schwierigste, derjenige der Entschädigung. Aus dem Gesetz selber ergeben sich keine finanziellen Ansprüche. Das heisst aber nicht, dass es keine finanziellen Entschädigungen geben wird. Es ist kein Geheimnis, dass ich selber ursprünglich die Regelung einer finanziellen Entschädigung in die parlamentarische Initiative aufnehmen wollte, darauf dann aber mit Blick auf die Mehrheitsfähigkeit des Gesetzes verzichtet habe, verzichten musste, nach Rücksprache mit Gruppe der Betroffenen, die am Anfang der Initiative standen. Es ging darum, jetzt und nicht irgendwann in ferner Zukunft der Rehabilitierung und der historischen Aufarbeitung zum Durchbruch zu verhelfen. Die Betroffenen wollen und können nicht mehr warten.
Rückblickend, auf dem Hintergrund der Erfahrungen seit Einreichung der Initiative vor drei Jahren, bin ich geneigt, im Verzicht auf die Regelung der Entschädigung in diesem Gesetz auch ein Stück Weisheit zu sehen. Nicht nur, weil die Rehabilitierung dann wohl nicht zustande gekommen wäre. Sondern auch, weil parallel zu diesem Gesetz auch auf der Stufe der Verwaltung einiges in Gang gekommen ist. Der vom Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement ins Leben gerufene runde Tisch ist daran, Lösungen für eine Soforthilfe vorzuschlagen. Diese ist dringend nötig, weil die Betroffenen schon älter sind und nicht mehr lange warten können. Unabhängig von dieser Soforthilfe ist die Fondslösung für eine Entschädigung, über die dann wieder auf dem Weg der Gesetzgebung entschieden werden muss, recht anspruchsvoll, weil auch die Kantone und andere Gremien einbezogen werden müssen. Schwer verständlich ist die Weigerung des Bauernverbands, bei der Soforthilfe mitzuziehen, haben doch Schweizer Bauern beim Verdingkinderwesen stark mitgewirkt und mitprofitiert. Es ist zentral, dass diese Soforthilfe für die Betroffenen jetzt rasch kommt und unbürokratisch umgesetzt wird. Und dass die definitive Fondslösung umsichtig, aber doch zielstrebig aufgegleist wird – parallel zur Arbeit der unabhängigen Expertenkommission, die mit dem neuen Gesetz eingesetzt wird.
Zentrale Bedeutung der EMRK
Ein Letztes: Die Erfahrungen mit der rechtsstaatlich unhaltbaren administrativen Versorgung zeigen, welche grossen rechtspolitischen Fortschritte die Schweiz der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und damit der Anerkennung der transnational geltenden Menschenrechte verdankt. Die administrative Versorgung gehörte wie das fehlende Frauenstimmrecht zu den Hindernissen auf dem Weg zur Ratifikation der EMRK. Wir tun gut daran, die zentrale Bedeutung der EMRK für unsere Grundrechtsentwicklung zu unterstreichen – gerade heute, wo neue Entrechtungen drohen.
Wir stehen mit diesem Gesetz vor einem wichtigen Schritt für die administrativ Versorgten, denen grosses Unrecht widerfahren ist. Aber auch vor einem wichtigen Schritt für unsere Gesellschaft. Dies auch als Mahnung für die Zukunft. Denn so etwas darf sich bei uns nicht mehr wiederholen. Auch nicht in anderem Gewand.