Es ist eine besondere List der Geschichte, dass, wer die Wahrheit unterdrücken möchte, manchmal unbeabsichtigt die Tür zu einem neuen Skandal aufstösst. Exemplarisch spielte sich dieser Vorgang bei den Zensurversuchen zur Forschung über den Waffenhändler und Kunstsammler Emil Bührle ab. Dem früheren Zürcher Kulturdirektor Peter Haerle passte der ausdrückliche Hinweis nicht, dass Bührle von der Zwangsarbeit durch KZ-Häftlinge in Nazi-Deutschland profitiert hatte. Als der Zensurversuch aufflog (WOZ vom 20. August 2020), meldeten sich plötzlich Schweizer Frauen, die auch für Bührle Zwangsarbeit geleistet hatten: in der demokratischen Schweiz. Endlich interessierte sich jemand für ihre Geschichte.
Was allen voran Elfriede Steiger und Irma Frei im Buch des Historikers und Beobachter-Redaktors Yves Demuth über die Zwangsarbeit in der Spinnerei Dietfurt erzählen, ist erschütternd. Bührle hatte die Fabrik 1941 unter Anwendung von Tricks verfolgungsbedingt äusserst günstig aus jüdischem Besitz übernommen. Während Jahrzehnten profitierte er davon, dass zwangsweise in das angegliederte Marienheim eingewiesene junge Frauen faktisch Gratisarbeit leisten mussten.
Das System der Zwangsarbeit via Fürsorgebehörden überdauerte bis in die 1970er Jahre. Nicht nur in Dietfurt, sondern auch in Walzenhausen, Lutzenberg, Bettlach und Rüti/GL. Ostschweizer Heime und Fabriken waren Orte der Entrechtung. Gegen das völkerrechtliche Verbot der Zwangsarbeit – die Schweiz war der Konvention 1941 beigetreten, ohne sich in der Praxis daran zu halten.
Es ist höchste Zeit, dass nach der administrativen Versorgung und den Verdingkindern auch dieses dunkle Kapitel der Sozialgeschichte in das Bewusstsein der Öffentlichkeit tritt. Und den Betroffenen Gerechtigkeit widerfährt. Die Stadt Zürich hat entschieden, Solidaritätsbeiträge zu leisten. Die Behörden anderer Gemeinden und Kantone, die diese menschenrechtswidrige Praxis zu verantworten hatten, müssen folgen. Bevor es zu spät ist.
Buch: Yves Demuth: «Schweizer Zwangsarbeiterinnen – Eine unerzählte Geschichte der Nachkriegszeit» (ISBN: 978-3-03875-456-5)