Stellen Sie sich vor, Sie hätten eine Sohn, meinetwegen eine Tochter, aber bleiben wir beim Sohn, bei dem in jungen Jahren nicht alles optimal verläuft. Neben anderen Problemen kommt es auch zu Straftaten. Beispielsweise im Umgang mit illegalen Drogen.
Und jetzt müssen Sie feststellen, dass er für seine Fehler nicht nur bestraft wird, wie alle anderen in der gleichen Lage auch, sondern dass er gleich auch sein Aufenthaltsrecht in der Schweiz verliert, auch wenn er in der Schweiz geboren wurde, hier aufgewachsen ist und sein ganzes soziales Netz in unserem Land hat.
Ich weiss natürlich, dass Ihnen allen und mir so etwas nicht passieren kann. Wir verfügen ja über das Schweizer Bürgerrecht. Aber es gibt Hunderttausende in diesem Land, die genauso wie wir in der Schweiz geboren sind, immer nur hier gelebt haben und deren ganzes soziales Netz in der Schweiz ist. Trotzdem müssen sie neu immer damit rechnen, nach einem Misstritt nicht nur bestraft zu werden, sondern mit dem Aufenthaltsrecht auch ihre ganze soziale Existenz zu verlieren. Nur weil sie den Schweizer Pass nicht haben. Ich frage Sie: Ist das gerecht?
Schweizer ohne Schweizer Pass
Der Kommissionsmehrheit ist zu attestieren, dass sie mit der neuen Härtefallklausel einen Schritt gemacht hat, der in der Praxis von grosser Bedeutung sein wird. Die Kommissionsmehrheit hat erkannt, dass die Härtefallprüfung viel stärker noch als bei der Schwere des Delikts bei der sozialen Situation der Betroffenen notwendig ist, insbesondere bei den sogenannten Secondos. Das ist eine starke Verbesserung gegenüber der bundesrätlichen Vorlage. Trotzdem geht die Fassung der Kommissionsmehrheit zu wenig weit, wird sie dem Problem in seiner ganzen Tragweite nicht gerecht.
Wenn man es recht bedenkt, sind die Hunderttausende von Menschen in unserem Land, die hier geboren wurden, hier aufgewachsen sind und ihr ganzes Leben hier gelebt haben und trotzdem nicht über den Schweizer Pass verfügen, ja nichts anderes als Schweizer ohne Schweizer Pass. Selbst die SVP musste das indirekt anerkennen, als sie kurz vor der Abstimmung vom 9. Februar und auch nach dem Ja zur Masseneinwanderungsinitiative argumentierte, das Wort «Schweizer» im neuen Verfassungsartikel bedeute nichts anderes als «Inländer». «Inländer» ist das Gegenteil von «Ausländer». Schon begrifflich dürfte der Verfassungsartikel «über die Ausschaffung krimineller Ausländer» deshalb auf die in der Schweiz geborenen und aufgewachsenen Menschen ohne Schweizer Pass nicht angewendet werden. Sie sind keine Ausländer, sondern Inländer und damit «Schweizer ohne Schweizer Pass». Es ist stossend, wenn die Secondos und Secondas im Zusammenhang mit dem Ausschaffungsartikel von Inländern plötzlich wieder zu «Ausländern» degradiert und mit sogenannten Kriminaltouristen in einen Topf geworfen werden.
Bürger zweiter Klasse
Man kann die Fragestellung noch erweitern. Die Schweiz ist seit rund 130-140 Jahren ein Einwanderungsland. Vorher war die Schweiz als armes Land ein Auswanderungsland. Allen Einwanderungsländern stellt sich Frage des Umgangs mit den Immigrantinnen und Immigranten mit ausländischem Pass. Die klassischen Einwanderungsländer wie die USA haben die Frage der Rechtsstellung der Eingewanderten mit dem sogenannten ius soli gelöst. Jedes im Land geborene Kind bekommt automatisch den Pass des Geburtslandes. Schwieriger ist es in den Ländern mit dem Bürgerrecht aufgrund der Abstammung wie der Schweiz. Aber auch unter diesen Ländern ist die Schweiz ein Sonderfall. Bei uns kombiniert sich eine starke wirtschaftlich bedingte Immigration mit einem restriktiven Einbürgerungsrecht. Jede dritte Arbeitsstunde in der Schweiz wird von jemandem ohne Schweizer Pass geleistet. Viele von ihnen sind in der Schweiz geboren und aufgewachsen. Aber ihr rechtlicher Status ist bisher so etwas wie der eines Bürgers zweiter Klasse.
Dieser Schweizer Sonderfall wird nun geradewegs zum Extremfall, wenn die Ausschaffungsinitiative in voller Härte auch auf Secondos angewendet wird. Die Rechtsstellung der Secondos und Secondas wird durch die Ausschaffungsvorlage gegenüber heute massiv verschlechtert, und nicht etwa jene von sogenannten Kriminaltouristen, die ja sowieso kein Aufenthaltsrecht haben. Ihnen, den Secondos, gegenüber führt die Ausschaffungsvorlage in Kombination mit der heutigen Einbürgerungspolitik und Einbürgerungspraxis zu einer eigentlichen Entrechtung.
Universelle Dimension
Die Ausschaffungsinitiative, schon das Wort «Ausschaffung» zielt ja mehr auf Sachen als auf Menschen, will ja nichts anderes als die Betroffenen in ihr Herkunftsland zurückzuschicken. Aber was ist bei jemandem, der in der Schweiz geboren wurde, hier aufgewachsen ist und immer nur hier gelebt hat, das Herkunftsland? Doch kein anderes Land als die Schweiz. Hier sind sie geboren, von hier kommen sie her. Ihr Herkunftsland, ihre Heimat ist die Schweiz.
In dieser Debatte um die Ausschaffungsinitiative und ihre Umsetzung geht es um fundamentale Fragen. Diese Fragen haben in einer von Migration geprägten Welt eine universelle Dimension. Auch migrierende Menschen sind vollwertige Menschen, Menschen mit Rechten. Ganz besonders trifft dies zu auf Menschen, die im Land geboren und aufgewachsen sind. Man darf und kann diese Menschen, die zur einheimischen Wohnbevölkerung gehören, aber nicht über den Pass verfügen, nicht einfach als Ausländer behandeln. Der politische Philosoph Michael Walzer hat dies in seinem immer noch aktuellen Grundlagenwerk «Sphären der Gerechtigkeit» vor Jahrzehnten schon so formuliert: «Politische Gerechtigkeit lässt dauerhaftes Ausländertum nicht zu…Zumindest nicht in einer Demokratie».
Im Konflikt mit Menschenrechten
Der Bundesrat hat dieses Problem, das sich für die Schweiz in dieser Schärfe vollständig neu stellt, in seiner Botschaft weitestgehend, aber nicht vollständig ausgeblendet. Der Bundesrat macht einen Rechtsvergleich, aber zieht dann daraus leider keine Schlussfolgerungen. Beim Rechtsvergleich zeigt sich nämlich, dass sämtliche unserer Nachbarländer für im Land Geborene und Aufgewachsene Sonderregelungen kennen. Das gilt auch für andere europäische Länder. Mein Minderheitsantrag, der die Ausschaffung von Secondos und Secondas verhindern will, orientiert sich wörtlich am österrreichischen Recht.
Die Botschaft, hier leider nur jene zur Durchsetzungsinitiative und nicht die zur Umsetzung des Ausschaffungsartikel, verschweigt auch den Konflikt mit den transnational verankerten Menschenrechten nicht, namentlich der EMRK, insbesondere der Bestimmung über den Schutz des Privat- und Familienlebens gemäss Art. 8 EMRK. Darüber hinaus gewährleistet der UNO-Menschenrechts-Pakt II in Art. 12 Abs. 4 in bestimmten Fällen das Recht auf Heimat im Land, in dem jemand geboren und aufgewachsen ist. Die Ausführungen in der Botschaft zur Durchsetzungsinitiative gelten unverändert auch für die Umsetzung der Ausschaffungsinitiative. Die EMRK und der UNO-Pakt II gelten auch nach der neuen Gesetzgebung. Es wäre deshalb ein grosser Irrtum, anzunehmen, dass der Konflikt mit den Menschenrechten mit dieser Gesetzgebung erledigt wäre. Die Gerichte bleiben auch mit dem neuen Gesetz an die EMRK und den Menschenrechtspakt gebunden. Rechtlich gehen diese höherwertigen Bestimmungen, die Menschenrechte, den Gesetzesparagraphen dieser Vorlage vor.
Recht auf Heimat
Denn das Recht auf Heimat gehört zu den elementaren Rechten eines Menschen, auch eines fehlbaren Menschen, eines Straftäters. Oder wie es Andreas Zünd im Zusammenhang mit der damals noch existierenden strafrechtlichen Landesverweisung schon vor mehr als 20 Jahren formuliert hat: «Ich meine, dass es ein unentziehbares ‚Recht auf Heimat‘ nicht nur des Staatsbürgers, sondern auch desjenigen gibt, der seine familiären, sozialen und kulturellen Beziehungen seit seiner Kindheit in einem bestimmten Land hat.» Dem ist auch 20 Jahre später grundsätzlich nichts beizufügen.
Eine letzte Überlegung. Die Schweiz war immer ein vielfältiges, ein kulturell, sprachlich, gesellschaftlich vielgestaltiges Land. Die Schweizer Staatsidee ist nicht von Homogenität und Einheitlichkeit geprägt, sonst gäbe es die Schweiz überhaupt nicht. Sondern von der reichen Vielfalt der Menschen, die unser Land in ihrer Realität ausmachen. Zu dieser Realität gehören nicht nur jene, die gewissermassen von den alten Eidgenossen abstammen. Sondern genauso jene, die mit ihrer Arbeit unser Land seit Jahrzehnten mitgestalten, und erst recht jene, die als Nachkommen der ersten Einwanderergeneration hier geboren und aufgewachsen sind, ohne über den Schweizer Pass zu verfügen. Wir dürfen diesen bedeutenden Teil unserer Bevölkerung nicht als Hintersassen, als Zweitklassmenschen behandeln, die beim ersten Fehltritt aus dem Land geworfen werden. Das sind wir diesen Hunderttausenden von Menschen, aber genauso der Schweizer Staatsidee schuldig. Die Secondos und Secondas gehören zur Schweizer Wohnbevölkerung, sie machen wie die anderen mit Schweizer Pass die Vielfalt unserer Bevölkerung aus. Und weil sie zu uns gehören, dürfen wir ihre Rechtsstellung mit dieser Vorlage nicht verschlechtern.