(Dieser Blogbeitrag ist die Begrüssungsrede anlässlich der Vernissage am 17. Juli. Die Ausstellung und Begleitveranstaltungen laufen noch bis zum 23. August 2020)
Es war vor 35 Jahren, im fernen Sommer 1985, auf einer mehrwöchigen Reise von Leuten aus der St.Galler Szene an verschiedene Schauplätze der damaligen Sowjetunion. Michail Gorbatschow war erst im März zum Generalsekretär der KPdSU bestimmt worden; Glasnost (die neue Politik der Offenheit) und Perestroika (die Bereitschaft zur Veränderung) gab es noch nicht. Niemand sah voraus, dass die Sowjetunion in wenigen Jahren Geschichte sein würde. Es war noch die alte, eine ganz andere Welt, die sich von unserer westlichen stark unterschied: der Alltag, die Bilder, die Gerüche.
Roman Signer hatte, was rasch spürbar wurde, einen besonderen Blick auf das andere, das Ungewohnte. Ein Blick, der geschärft war durch den frühen Stipendienaufenthalt in Warschau. Noch mitten im Kalten Krieg. Wo er, mitten im grauen Alltag, immer wieder wundersame Entdeckungen machte.
Durch die Art, wie Roman auf die Welt blickte, habe ich manches neu gesehen. Durch ihn habe ich damals, auf der Reise im Jahre 1985, auch das Werk von Velimir Chlebnikov kennengelernt. Chlebnikov gilt als grösste poetische Potenz unter den russischen Futuristen. Majakovskij schrieb über ihn: «Chlebnikov ist kein Dichter für den Verbrauch. Ihn kann man nicht lesen. Chlebnikov ist ein Dichter für Produzenten.»
Chlebnikov experimentierte in seiner «Sternensprache», wie er sie nannte, mit mathematischen Rätseln, die seiner Zeit weit voraus waren. So wie der «Turm» seines Freundes Tatlin, des Modells für ein Monument der III. Internationale. Ein Turm, der nie gebaut werden sollte, und trotzdem in die Zeit hineinragt.
Den spielerischen Geist, der diese Werke prägt, findet man bei Roman Signer auf Schritt und Tritt.
Heute geht es allerdings nicht um die Werke von Roman Signer. In der Bibliothek der Wunder, der «Library of Marvels», entfaltet Rachel Withers eine Welt des Staunens. Eine Bilderwelt, die Haken schlägt. Die sich nicht in einer durchsichtigen Logik einfangen lässt. Das Material dazu hat Rachel Withers in Roman Signers Bibliothek gefunden.
Der Bilderschatz dieser Ausstellung erinnert in der Welt der Sprache an die Erzählungen und Essays des Argentiniers Jorge Luis Borges. Seine Texte sind Enzyklopädien des Imaginären. Oder fantastische Erzählungen wie die neue Widerlegung der Zeit. Sie entwickeln ihre eigene, überraschende, Logik. Borges Welt war eine der Bibliotheken.
Bibliotheken, Buchhandlungen sind Schatzkammern des Geistes, des über lange Zeiträume hinweg gesammelten Wissens. St.Gallen hat hier einiges zu bieten. Die Stiftsbibliothek, unser Weltkulturgut, oder die Publikumsbibliothek in der Hauptpost, die als Public Library in ihrer Zugänglichkeit am Bahnhofsplatz schweizweit ihresgleichen sucht. Eine weitere Fundgrube für streifende und schweifende Leser sind Antiquariate. Wie das Buchantiquariat Lüchinger von Markus Comba an der Magnihalden.
Roman Signer kann aber auch alten Adressbüchern Interessantes abgewinnen. Er hat mir mal erzählt, wie er entdeckte, dass die Schuhmacherwerkstatt, von der aus der Säntismörder Kreuzpointner aufgebrochen sei, just an der Unterstrasse lag. Der Säntismord von 1922 als grosse Schweizer Kriminalgeschichte mit ihrem Ausgangspunkt exakt gegenüber seinem heutigen Atelier.
Das Werk von Roman Signer ist voller vielfältiger und nicht übersehbarer Bezüge zu St.Gallen, dem Wohnort, und Appenzell, seinem Geburtsort. Eindrücklich war das schon vor bald 50 Jahren bei der Säntisinstallation mit Bernhard Tagwerker auf dem Bodensee zu sehen. Und unübersehbar bei der Zündschnur von 1989, die die Topographie von Appenzell nach St.Gallen entlang der Appenzeller Bahn in 35 Tagen in Raum und Zeit neu vermass.
Inzwischen ist das Stadtbild versetzt mit Arbeiten, Spuren, von Roman Signer. Die Kunst ist zwar hier verankert und wächst aus der Region heraus. Sie weist aber ins Weite, oft mit einer universellen Dimension. – Wie dies auch für die Filme von Peter Liechti, etwa «Vaters Garten» oder «Hans im Glück» gilt. Oder für die binäre Bahnhofsuhr von Norbert Möslang, die avantgardistischste Bahnhofsuhr Europas, wenn nicht der Welt. Eine Visitenkarte des Aufbruchs. Und im Stadtbild so etwas wie eine Antwort auf den Wasserturm von Roman Signer im Grabenpärkli, seinerzeit ein erstaunlich weitblickendes Jubiläumsgeschenk des Gewerbeverbands, an dem sich das Publikum auch rieb. Wie Jahrzehnte zuvor schon am grossartigen Tapies im Stadttheater.
Mit Blick auf die jüngeren kulturpolitischen Entscheide des Stadtrates kann man sich allerdings fragen, ob den politisch Verantwortlichen in unserer Stadt auch bewusst ist, welchen Rang und welche Bedeutung Kunst und Kultur hier haben. Welcher Kontrast zur Lebendigkeit der politisch-kulturellen Szene in dieser Stadt! Roman Signer ist ein Künstler von Weltrang. Mit grosser Selbstverständlichkeit gehört er zu den Erstunterzeichnern des Kulturappells gegen die kurzsichtige Sparpolitik in der Kulturpolitik und beim Kunstmuseum.
Erst recht in dieser Zeit von Corona und kurzsichtiger Sparpolitik ist es eine Freude, mit dieser Ausstellung von Rachel Withers zu den Büchern von Roman Signer ein kleines Festival der Fantasie zu erleben. Und einmal mehr hat es Ursula Badrutt vom Amt für Kultur mit ihrem Team geschafft, in der Reihe S4 etwas zum Klingen zu bringen, was in diesem Kanton, in dem die Kultur nicht immer einen leichten Stand hat, nicht selbstverständlich ist. Herzliche Gratulation Rachel Withers, Roman Signer und Ursula Badrutt zu dieser Leistung! Und natürlich auch den vielen anderen Mitwirkenden, herausgegriffen die erneut eindrückliche Ausstellungsarchitektur von Johannes Stieger.