
80 Jahre ist es her seit der Kapitulation des Nazi-Reichs vor den Alliierten: Ein Tag der Erinnerung an die Befreiung in ganz Europa. In der Schweiz bleibt es seltsam still. Als ob das Land ausserhalb der europäischen und der Weltgeschichte stehen würde. Dabei war der Sieg der Alliierten über die Nazis auch entscheidend für die Freiheit und die Demokratie der Schweiz.
Dass die Schweiz ihre Unabhängigkeit und Freiheit im Zweiten Weltkrieg bewahren konnte, als sie von Nazis und Faschisten umzingelt war, ist keineswegs eine Selbstverständlichkeit. Was das Schicksal der Schweiz gewesen wäre, wenn die Alliierten den Zweiten Weltkrieg nicht gewonnen hätten, malt man sich besser gar nicht aus. Fest steht, dass die Freiheit der Schweiz nie stärker bedroht war als durch das Nazi-Regime.
Wie im immer noch bemerkenswerten Bonjour-Bericht* aus den 1970er Jahren nachzulesen ist, gab es in der Zeit des Nationalsozialismus auch in der Schweiz anpasserische Tendenzen, bis mitten in den Bundesrat hinein. Insgesamt waren die Kräfte, die für die Bewahrung der Unabhängigkeit eintraten, allerdings viel stärker. Dies in starkem Gegensatz zum Nachbarland Österreich.
So positiv die nicht selbstverständliche Bewahrung der Unabhängigkeit in dieser Zeit zu bewerten ist, so bedenklich war die antisemitisch geprägte Flüchtlingspolitik dieser Zeit, die sich ausgerechnet gegen die von den Nazis am stärksten Bedrohten wendete. Der Bundesrat hielt dem Parlament und der Öffentlichkeit gegenüber geheim, dass er es war, der gegenüber dem Deutschen Reich auf die Kennzeichnung der Pässe von Jüdinnen und Juden mit dem J-Stempel gedrängt hatte. Die Enthüllung dieser Tatsache durch den «Beobachter» führte 1954 zum Skandal. Der darauf vom Bundesrat in Auftrag gegebene Ludwig-Bericht zeigte – wie später weit umfassender auch der Bericht der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (UEK; sogenannte «Bergier-Kommission») –, wie antisemitisch die Flüchtlingspolitik jener Zeit war, was für viele Betroffene tödliche Folgen hatte. Die Ehre der Schweiz retteten jene, die wie Paul Grüninger gegen die antisemitische Politik der Bundesbehörden vielen Flüchtlingen das Leben retteten.
Der 8. Mai wäre achtzig Jahre nach Kriegsende auch für die Schweiz ein Anlass, sich ein paar Fragen zu stellen. Beginnend bei der Flüchtlingspolitik. Politisch und medial finden ständig Kampagnen gegen das Asylrecht statt. Ausgeblendet wird dabei, welche fundamentale Bedeutung das Asylrecht in der Geschichte des Bundesstaates seit seiner Gründung hatte. Es gehört zur positiv verstandenen Identität der Schweiz, Verfolgten Schutz zu gewähren. Angesichts der weltweiten Aushöhlung des Rechts auf Asyl ist diese Erinnerung heute wichtiger denn je.
Die Erinnerung an den 8. Mai macht aber auch klar, wie stark das Schicksal der Schweiz mit dem Schicksal Europas verflochten ist, so sehr sie das Glück hatte, damals vom Krieg verschont zu bleiben. Dank der EU konnte das Europa der Nationalstaaten überwunden werden. Auch diese Entwicklung war keineswegs selbstverständlich, liegt aber im starken Interesse der Schweiz. Und sie ist ein wichtiges Argument dafür, die Beziehung zur EU weiterzuentwickeln.
Erst recht gilt das sicherheitspolitisch, nachdem der Angriffskrieg mit dem Überfall von Putin-Russland auf die Ukraine nach Europa zurückgekehrt ist. Die Neutralität war schon in der Vergangenheit ein Mittel und nie ein Staatsziel. Sie muss so interpretiert werden, dass sie die Interessen der Schweiz schützt und mit ihren Grundwerten nicht in Widerspruch gerät. Sicherheitspolitisch bedeutet das mehr Kooperation mit Europa statt Alleingang. Das geht auch ohne den Beitritt zu einem Militärbündnis wie der Nato.
80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs werden die Lehren aus den Verheerungen der Nazi-Zeit in weiten Teilen der Welt auf beunruhigende Weise in Frage gestellt. Darunter Errungenschaften wie die universellen Menschenrechte, das Asylrecht, die weltweiten Institutionen wie die UNO. Es sind zentrale Errungenschaften auch der Schweiz, so schwer sich diese mit dem Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention (1974) und zur UNO (2002) getan hat. Gerade weil diese Errungenschaften heute von Grossmächten angegriffen und in Frage gestellt werden, müssen sie offensiv verteidigt werden.
80 Jahre nach Kriegsende wäre es Zeit, der Bedeutung des 8. Mai auch für die Schweiz stärker bewusst zu werden.
*Edgar Bonjour, Geschichte der schweizerischen Neutralität
Bildquelle: Werner Rings, Die Schweiz im Krieg, 1974, S. 331